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Politik

Wie Gefangene in Belarus arbeiten müssen

Janina Moroz
20. Juni 2022

Frauen und Männer in belarussischen Vollzugsanstalten müssen schwer arbeiten und werden schlecht bezahlt. Menschenrechtler und Betroffene, darunter politische Gefangene, schildern der DW ihre Erfahrungen.

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Symbolbild Gefangenschaft
Bild: Sergey Nepsha/Zoonar/picture alliance

"Das sind wirklich Arbeitsbedingungen wie in der Sklaverei", sagt die einstige politische Gefangene Natalia Hersche. Sie saß im Frauengefängnis von Gomel, wegen der Teilnahme an einem Protestmarsch in Minsk. "Die Arbeitsplätze sind nicht richtig ausgestattet. Es ist eine Nähmaschine mit nur einem einfachen Holzhocker. Nur wenige bekommen Schuhe, die der Arbeitsschutz für Näherinnen vorschreibt. Die reine Arbeitszeit sind sechs Stunden am Tag mit zwei Pausen von jeweils fünf bis zehn Minuten. Um 12 Uhr gibt es Mittagessen. Oft wird auch am Wochenende gearbeitet, wenn ein Auftrag schnell erledigt werden muss", erinnert sich die Oppositionelle.

Ihr Gefängnis ist dafür bekannt, dass dort Kleidung für die belarussischen Strafverfolgungsbehörden hergestellt wird. Doch Natalia weigerte sich, Uniformen zu nähen. Daraufhin durfte sie keine Pakete und Anrufe mehr von ihrer Familie empfangen und kam dazu in Einzelhaft. Letztendlich musste sie dann Arbeitskleidung für eine Baufirma nähen.

In dem Gefängnis verbüßt übrigens auch eine bekannte politische Gefangene ihre Haft: Maria Kolesnikowa. Seit Sommer 2020 ist sie das Gesicht der oppositionellen Bewegung , die dem seit 1994 regierenden Machthaber Alexander Lukaschenko Wahlfälschung vorwirft.

Autorin Natallia Hersche
Natalia Hersche, ehemalige politische GefangeneBild: DW

Alle Gefangenen in Belarus sind gesetzlich verpflichtet, während ihrer Haft zu arbeiten. Arbeit ablehnen darf man nicht, andernfalls droht eine Disziplinarstrafe bis hin zur Haftverlängerung. Wasilij Sawadskij, Gründer der Organisation "TimeAct", betont, dass eigentlich auch für Häftlinge die belarussischen Arbeitsgesetze gelten würden. Doch die tatsächliche Lage zeige, dass man von "Sklaverei" sprechen könne. "TimeAct" hatte sich für die Rechte von Gefangenen eingesetzt, bevor in Belarus im Zuge der Proteste gegen Wahlfälschung die Zivilgesellschaft vom Lukaschenko-Regime völlig erstickt wurde.

Sawadskij zufolge, der fast 25 Jahre im Strafvollzugssystem von Belarus gearbeitet hat, sieht die Realität so aus: 40 Stunden bezahlte Arbeit pro Woche, dazu unbezahlte Arbeit in Hof und Garten ohne Arbeitsvertrag, ein hohes Arbeitssoll und geringe Entlohnung. "Gefangene können sich ihre Arbeit nicht aussuchen. Sie können sich nicht über ihre Rechte als Arbeitnehmer informieren und ihre Rechte verteidigen", so der Menschenrechtler und Arzt.

Sechs Rubel fürs Nähen

"Mein erster Monatslohn hat mich wirklich beeindruckt: 6,66 Rubel (umgerechnet 1,80 Euro)", sagt Natalia Hersche ironisch. Berichten zufolge musste beispielsweise der Bankmanager und Politiker Viktor Babariko, der als aussichtsreicher Kandidat für die belarussische Präsidentschaftswahl 2020 galt und in Nowopolozk eine 14-jährige Haftstrafe verbüßt, zunächst sechs Tage die Woche als Heizer in einer Bäckerei arbeiten. Dafür bekam er weniger als zwei Rubel (umgerechnet 0,56 Euro). Später wurde Babariko versetzt und arbeitet seitdem als Fertiger von Backwaren, obwohl es auch dort Probleme bei den Arbeitsbedingungen gibt: hohe Temperaturen und schlechte Belüftung.

Menschenrechtler weisen darauf hin, dass die Löhne äußerst gering ausfallen, weil von ihnen die Ausgaben für Lebensmittel und Kleidung, die Nebenkosten und Geldstrafen abgezogen würden. "Bei politischen Gefangenen ist Arbeit ein Mittel zur Bestrafung. Bei üblichen Gefangenen ist Arbeit definitiv kein Mittel zur Besserung. Es ist unwahrscheinlich, dass sich jemand bessern wird, wenn ihm schwere und gefährliche Arbeit materiell nichts bringt", meint Pawel Sapelko, Jurist des belarussischen Menschenrechtszentrums "Viasna".

Produktion auf Kosten von Sträflingen

Ein weiterer Grund für den Einsatz von Häftlingen als billige Arbeitskräfte ist die Profitorientierung der Gefängnisse. Der belarussischen Strafvollzugsbehörde sind 15 Betriebe und neun Werkstätten unterstellt. Sträflinge werden hauptsächlich in der Holz- und Metallverarbeitung, in der Bekleidungs- und Schuhproduktion, in der Landwirtschaft sowie in der Industrie eingesetzt. Sie stellen Ersatzteile für den Minsker Fahrzeughersteller MAZ, das Traktorenwerk MTZ und andere Fabriken her.

Belarus Traktor-Werk in Minsk
Traktorenwerk in der belarussischen Hauptstadt MinskBild: DW

Auf der Website der Strafvollzugsbehörde, die der Visitenkarte einer kommerziellen Firma ähnelt, kann man sich ein Bild davon machen, was Sträflinge produzieren. In einem 121-seitigen Katalog findet sich nicht nur spezielle Bekleidung, sondern auch Grills, Pflastersteine, Fenster, Möbel und Sofas.

Bevor vom Westen Sanktionen gegen Belarus verhängt wurden, exportierten einige Vollzugsanstalten ihre Produkte sogar. Nach Angaben der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) in Frankfurt am Main, die mit Hilfe von belarussischen Menschenrechtsaktivisten zusammengetragen wurden, sind einige dieser Produkte noch immer im Ausland zu finden. "Bis vor kurzem verkaufte das Gefängnis in Nowosady Möbel ins Ausland. Das Gefängnis in Iwazewitschi lieferte, wenn ich mich nicht irre, nach Frankreich", sagt der Menschenrechtler Wasilij Sawadskij und fügt hinzu, dass die Gefängnisse untereinander sogar konkurrieren würden.

Infos über Arbeitsbedingungen unter Verschluss

Aus offiziellen Quellen ist nicht zu erfahren, unter welchen Bedingungen Sträflinge arbeiten. "Alles, was Gefängnisse in Belarus betrifft, ist unter Verschluss", sagt der Jurist Pawel Sapelko. Informationen würden entweder von den Gefangenen selbst oder von denen, die freigelassen werden, nach außen getragen.

Pavel Sapelko
Pawel Sapelko ist Jurist des belarussischen Menschenrechtszentrums "Viasna"Bild: privat

Sapelko zufolge gibt es regelmäßig Beschwerden über Sicherheitsverstöße. "Nicht jeder wird mit Schutzkleidung und -ausrüstung ausgestattet. Meist arbeiten Häftlinge in der gleichen Kleidung, in der sie zum Essen gehen und sich in Wohnbereichen aufhalten. In vielen Gefängnissen wird mit veralteten Geräten produziert, was zu Unfällen führt, die selten ordnungsgemäß protokolliert werden", so der "Viasna"-Vertreter.

Die ehemalige Gefangene Natalia Hersche berichtet: "Als wir zur Arbeit kamen, arbeiteten dort fünf bis sechs Gruppen gleichzeitig. Zudem wurden Malerarbeiten durchgeführt und es roch sehr stark nach Farbe. Einer Frau wurde übel, sie verlor das Bewusstsein und fiel zwischen die Nähmaschinen. Sie wurde nach draußen gebracht und saß eine halbe Stunde auf einer Bank. Dann sollte sie weiternähen. Aber nach zehn Minuten verlor sie wieder das Bewusstsein. Schließlich wurde ein Krankenwagen gerufen. Ich habe sie drei Wochen später gesehen. Sie ging am Stock, sie hatte einen Schlaganfall."

Druck auf politische Gefangene

Arbeiten, die an Menschen vergeben werden, die aus politischen Gründen in Haft sind, werden oft als Druckmittel eingesetzt. Das Zentrum "Viasna" kennt Fälle, wo Häftlinge in die Schwerindustrie geschickt wurden. So mussten sie nasses Holz sägen, Kabelisolierungen manuell abziehen oder Metall aus Altreifen herausziehen.

"Solche Arbeiten kann man als Zwangsarbeit bezeichnen. Dies geschieht nicht nur, um Gefangene zu demütigen, sondern auch, um Geld mit ihnen zu verdienen", beklagt der Menschenrechtler Pawel Sapelko.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk