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PolitikKenia

Wie Kenia nach 60 Jahren nach Harmonie strebt

11. Dezember 2023

Seit seiner Unabhängigkeit im Dezember 1963 ist Kenia ein Land voller Spannungen. Die verlaufen heute weniger entlang ethnischer Linien. Doch die angespannte Wirtschaft stellt das Land vor neue Herausforderungen.

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Blaskapelle
Der britische Einfluss ist bis heute sichtbar: Blaskapelle zum Empfang von König Charles III. im Oktober 2023Bild: Brian Inganga/picture alliance/AP

Ein entschlossener Blick, die rechte Hand auf das Gewehr gestützt: So steht Dedan Kimathi, Kenias berühmter Unabhängigkeitskämpfer, auf seinem Sockel in der Innenstadt von Nairobi. Die Geschichte von 60 Jahren Unabhängigkeit nach dem Befreiungskampf gegen die Briten ist in das Stadtbild eingeschrieben. Folgt man Kimathis Blick, ist man bald in der prunkvollen Kenyatta Avenue, benannt nach Kenias erstem Präsidenten Jomo Kenyatta. Am 12. Dezember 1963 endete die Herrschaft der britischen Krone. Jamhuri Day - Tag der Republik, so nennen die Kenianer seither ihren Unabhängigkeitstag.

Jomo Kenyatta bei der Amtseinführung zum Premierminister der kenianischen Autonomieregierung
Jomo Kenyatta wurde im Juni 1963 bereits Premierminister einer AutonomieregierungBild: Central Press/AFP/Getty Images

Doch 60 Jahre später ist manchen Menschen so gar nicht nach Feiern zumute. So erlebt es Berline Ndolo, Programmmanagerin von Wonesu, einer Organisation, die Menschen in der westkenianischen Provinz Kisumu bei der Bildung unterstützt - die Ärmsten der Armen, wie sie sagt. "Diese Menschen können am Jamhuri Day nicht fröhlich sein. Das Leben ist für sie sehr teuer geworden, sie können sich keine drei Mahlzeiten, vielleicht noch nicht einmal zwei Mahlzeiten leisten. Sie werden damit beschäftigt sein, ihre Familie nach besten Möglichkeiten zu ernähren."

Das Schlagwort für Ndolo: Cost of Living. Die Lebenshaltungskosten seien graduell angestiegen - vor allem im letzten Jahr, seit William Ruto Präsident von Kenia ist. "Er hatte eine vielversprechende Agenda. Die Menschen waren voller Hoffnung. Jetzt sind sie sehr enttäuscht."

Überwindung der ethnischen Gräben

Fragt man Menschen in Kenia nach einem prägenden Moment der kenianischen Geschichte, kommt immer wieder die Krise nach den Wahlen von 2007 zur Sprache, als ein knapper Wahlausgang in ethnische Gewalt mündete. Bis zu 1500 Menschen wurden getötet, Hunderttausende vertrieben. "Das war ein Wendepunkt", sagt Peter Muchiri.

Brennende Reifen auf einer Straße, auf der Parolen geschrieben sind
Diese brennenden Barrikaden im Kibera-Slum von Nairobi im April 2008 fordern, den heutigen Präsidenten Ruto an die Macht zu lassenBild: EPA/dpa/picture alliance

Der 26-Jährige arbeitet als Hotelangestellter in der zentralkenianischen Stadt Nyahururu. "Vorher gab es Orte, wo man nicht hingehen konnte, um eine Arbeit zu suchen oder um Hilfe zu bitten: Wenn du nicht einer von ihnen warst, hat dich niemand beachtet." Doch die Erfahrung des Blutvergießens hätte die Menschen verändert: "Menschen haben gelernt, einander wertzuschätzen, unabhängig der ethnischen Herkunft. Egal, welcher Volksgruppe du angehörst - du bist Kenianer!"

James Shikwati ist Gründer des Inter Region Economic Network. Sein Büro in Nairobi strahlt etwas von Start-up oder Privatdetektei aus: Vollgestopft mit Büchern und Aktenordnern, zwei Mitarbeiterinnen, improvisierte Küche. Auch William Ruto habe als Präsidentschaftskandidat dazu beigetragen, alte Muster aufzubrechen, sagt Shikwati im DW-Gespräch. "Seine Kampagne stützte sich nicht auf ethnische Zugehörigkeit, auf den Reflex, von diesem oder jenem Volk zu sprechen. Er hat das neue Volk der 'Menschen ganz unten' geschaffen, wenn man es so nennen möchte. Es ging mehr um den Wettbewerb zwischen Reichen und Armen." Damit habe er Kenianer sensibilisiert.

Kettenreaktion des Sparens

Die Zuspitzung des Wahlkampfs auf ökonomische Fragen ist für Shikwati der Grund, warum jetzt gerade seine Wirtschaftspolitik hart hinterfragt werde. "Die Menschen verurteilen ihn nicht im Namen seines Volkes. Aber sie beschweren sich, dass Menschen ihre Arbeitsplätze verlieren, dass Unternehmen dicht machen", sagt Shikwati.

James Shikwati
James Shikwati in seinem Büro in NairobiBild: Philipp Sandner/DW

Monatelang machten viele Kenianer ihrem Unmut in teils gewaltsamen Massenprotesten Luft - angeheizt vom Verlierer der Präsidentschaftswahl von 2022, Raila Odinga, der das Ergebnis lange nicht anerkannte. Inzwischen hat sich die Lage auf der Straße beruhigt, doch die ökonomischen Herausforderungen sind geblieben.

Auch Samir Hassan ist unzufrieden. Er arbeitet in Kenias zweitgrößter Stadt Mombasa als Fahrer für ein Busunternehmen. "Jeder Kenianer versucht, die Ausgaben zu drücken." Normalerweise sei das Geschäft zum Jahresende gut: "Da haben wir gemischte Kundschaft: Kenianer und Auslandstouristen. Normalerweise schlafen wir in dieser Zeit am Bahnhof oder am Flughafen. Im Büro bekommen wir einen Plan für fünf Transferfahrten." Doch das habe sich geändert, weil die Kenianer ihr Reiseverhalten änderten, lieber zur Familie fahren würden. "Jetzt bin ich für drei Tage einfach zu Hause."

König Charles mit William Ruto auf einem roten Teppich
Besuch in wirtschaftlich schweren Zeiten: Den britischen König Charles III. führte vor anderthalb Monaten seine erste Reise in ein Commonwealth-Land nach KeniaBild: Arthur Edwards/The Sun/empics/picture alliance

Alles sei miteinander verkettet, sagt Hassan. "Die einen sind davon abhängig, Touristen ihre Kokosnüsse zu verkaufen. Die anderen hängen wie wir Fahrer von Transferfahrten ab, um unsere Kinder zu ernähren. Die Fahrer würden sich im Hotel einen Tee und einen Chapati bestellen. Alle sind voneinander abhängig. Diese Kette ist jetzt durchgeschnitten."

Großprojekte und Spirale der Verschuldung

Folgt man der Kenyatta Avenue, gelangt man westlich der Innenstadt zum Uhuru Park. Pünktlich zum Unabhängigkeitstag soll hier ein großes Festival stattfinden. Doch wer dort hinwill, muss erst einmal die Hauptverkehrsader Nairobis überwinden: Auf Stelzen zieht sich der Nairobi Expressway durch die Stadt. Die Mautstraße wurde vor einem Jahr eröffnet. Über sie gelangt man in kurzer Zeit zum Flughafen - oder auch zum Bahnhof des neuen Schnellzugs, der Nairobi binnen fünfeinhalb Stunden an die Hafenstadt Mombasa anbindet. Zwei bedeutende Verkehrsachsen, die in den letzten Jahren geschaffen wurden - gut angenommen, aber auch ein Teil der Misere, in der sich Kenia jetzt befindet, sagt Experte James Shikwati.

Der Schlüsselmoment war für Shikwati die Wahl von Uhuru Kenyatta, Sohn des Staatsgründers, zum Präsidenten - im Team mit seinem Stellvertreter William Ruto. Beide waren vor dem Internationalen Strafgerichtshof für ihre Rolle in der Krise von 2007 / 2008 angeklagt. Mit ihrer Wahlkampagne schafften sie es, sich als Opfer einer neokolonialen Gerichtsbarkeit darzustellen - so konnten sie gemeinsam die Wahl gewinnen. "Das muss sie sehr unter Druck gestellt haben, sich bei ihrer Wählerschaft beliebt zu machen und erfolgreich zu zeigen. Und Erfolg lässt sich über große Projekte demonstrieren. Eines davon war der Schnellzug."

Eisenbahnzug, im Vordergrund ein Zebra
Der Schnellzug verbindet die beiden größten kenianischen Metropolen Mombasa und Nairobi seit 2017 - auf der Fahrt sind die Wildtiere des Tsavo-Nationalparks zu sehenBild: Dong Jianghui/Xinhua/picture alliance

Es war der Anfang einer Spirale aus Anleihen und einem schnell wachsenden Schuldenberg - wozu laut Shikwati auch Ungerechtigkeiten des globalen Finanzsystems und Fehleinschätzungen von Weltbank und Internationalem Währungsfonds beitrugen. Im Umgang mit diesen Schulden habe Ruto aber die falschen Mittel gewählt, indem er massiv neue Steuern einführte - und damit das System weiter unter Druck setzte. "Unsere Volkswirtschaft gleicht den Straßenhändlern, die Waren einkaufen und auf der Straße weiterverkaufen", sagt Shikwati: "Wir kaufen von China, wir verkaufen an Kenianer - aber wir produzieren nicht." Die Steuerlast belaste kenianische Dienstleistungsunternehmen zu stark, da sie die steigenden Kosten nicht an die Verbraucher weitergeben könne. So breche die Wirtschaft zusammen.

60 Jahre nach der Unabhängigkeit stehen in Kenia also nicht mehr ethnische Fragen im Vordergrund - doch der soziale Frieden wird von der wirtschaftlichen Lage auf eine Belastungsprobe gestellt.