Wie neugeboren
8. April 2024Wunsch und Wirklichkeit
Das war ja wohl maßlos übertrieben! Anna schiebt das Buch wieder ins Regal. Es hat ihr in den vergangenen Tagen geholfen. Sieben Tage lang hatte sie nichts gegessen. Gar nichts! Nur Wasser, Tee, Gemüsebrühe und ab und zu mal einen zuckerarmen Saft – als Ersatz für den geliebten Grauburgunder. Vier Kilo hatte das gebracht. Also abgenommen hatte sie vier Kilo. Das war aber nichts im Vergleich zum Titelbild des Buches: Ein Mann hält eine Hose, ähnlich der von Obelix, an der Taille etwa 20 Zentimeter vor seine neue Bauchweite. „Wie neu geboren durch Fasten“ titelt dazu das Buch. Wer’s glaubt, wird selig!
So etwas ärgert Anna. Wenn jemand absichtlich übertreibt und damit unerfüllbare Erwartungen weckt. Sie hatte sich tatsächlich an die Vorgaben gehalten. Sogar Fitness-Übungen hatte sie gemacht. Aber vier Kilo sind ein bescheidener Erfolg. Und halten kann sie das nur, wenn sie ihre Essgewohnheiten nachhaltig ändert. Zucker ist Gift. Weißes Mehl – gefährlich. Stattdessen reichlich Obst und Gemüse. Das Fasten kann ein Neustart sein. Allerdings müsste sie von nun an konsequent ihre Gewohnheiten umstellen.
Man wird doch einmal fragen dürfen!
Sogar ihre Gedankenwelt entwickelte während des Fastens ein Eigenleben. Vergessene oder verdrängte Erinnerungen wurden wach. Die Streitereien der letzten Wochen mit Bernhard zum Beispiel. Eigentlich waren es Nebensachen, Empfindlichkeiten. Das kann man vermeiden, wenn man will. Man? Ich kann das einfach lassen, beschloss sie. Sie kennt ja seine inneren roten Knöpfe.
Es gibt aber anderes, das sie verunsichert. Gesellschaftspolitisches, das ihr zu denken gibt. Da würde sie ebenfalls gern ein paar Kilo von dem verlieren, was sie belastet. Sie macht sich Sorgen wegen des Klimawandels, aber: Warum müssen jahrhundertealte Meisterwerke Schaden nehmen, damit wir auf die Erderwärmung aufmerksam gemacht werden? Außerdem: Wieso ist Krieg wieder salonfähig geworden? Und: Warum laufen so viele immer denen mit den unwahrscheinlichsten Versprechungen hinterher?
Wohin geht die Reise?
Sie erinnert sich, wie sie 1983 erschrocken war über die Beschlüsse in Ost und West, in der DDR russische SS20-Raketen und jenseits der Grenze amerikanische Pershing-Raketen zu stationieren. Im Zweifelsfall wäre Deutschland das Schlachtfeld gewesen. Sich in der DDR gegen die Aufrüstung zu wehren, war fast unmöglich. Anna hatte es versucht in einer Friedensgruppe, die in Dorfkirchen mit kleinen Theaterstücken auftrat. Die Auseinandersetzungen um die Taurus-Marschflugkörper für die Ukraine erinnern sie sehr an die Ängste von damals. Im Kollegenkreis hatte sie letztens dazu geschwiegen.
Später in den Wendemonaten 1990 engagierte sie sich am „Runden Tisch“. Neue Interessengruppen und Parteien entstanden. Alles war möglich. Aber gemeinsam suchten sie nach tragfähigen Lösungen für die Region. Heute gründen sich Parteien, die es besser machen wollen als die etablierten. Viele Menschen sind unzufrieden und uneinig. Im Streit blockieren sie oft den Weg zu praktikablen Lösungen. Selbst in der Gemeinderatssitzung hatte sie das gesehen. Wie bei der Ernährung war Anna auch hier weit von ihren Idealen entfernt.
Und jetzt: Neustart?
„Geht das: ein Neustart für die innere Einstellung?“, fragte sie sich. Pastor Martin Niemöller hatte sie einst beeindruckt mit seiner schlichten Frage: „Was würde Jesus dazu sagen?“ Auf einige wirkte das damals schon naiv.
Doch Anna nimmt sich die alte Frage zu Herzen und erinnert sich. Früher hätte sie schnell widersprochen, wenn jemand die Tatsachen verdreht. Sie hätte versucht, die Uneinigen an einen Tisch zu bringen, um einen gemeinsamen Weg zu finden. Auf ihren Glauben zu vertrauen und Versöhnung zu suchen, das war ihre Stärke gewesen.
Könnte sie damit einen Neuanfang wagen? Mit einiger Konsequenz wäre das sicher möglich. „Wie neugeboren“ wäre vielleicht zu viel gesagt, aber Anna fasst neuen Mut.
Zum Autor:
Gerhard Richter (Jahrgang 1957) war bis 2019 Referent für die Partnerbeziehungen nach Tansania im Leipziger Missionswerk. Geboren und aufgewachsen ist er in Weimar in einem atheistischen Elternhaus. Als gelernter Tiefbauer studierte er zunächst Bauingenieurwesen und wechselte dann zum Studium der evangelischen Theologie an die Universität in Jena. Stationen als Pfarrer waren Kerspleben bei Erfurt, Weimar, Tansania, Bibra und Leipzig. Heute ist er im Ruhestand und wohnt im Thüringer Schiefergebirge bei Saalfeld.
Dieser Beitrag wird redaktionell von den christlichen Kirchen verantwortet.