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Rückkehr an die Front: Russlands Umgang mit Deserteuren

Alexey Strelnikov
30. Juli 2024

Die Zahl der Fahnenflüchtigen in der russischen Armee wächst. Menschenrechtler berichten über Folterungen von Kriegsverweigerern. Die DW hat mit einem russischen Deserteur gesprochen.

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Frauen russischer Soldaten knien auf der Straße und fordern in Moskau auf Plakaten die Rückkehr ihrer Männer von der Front
Frauen russischer Soldaten fordern in Moskau die Rückkehr ihrer Männer von der FrontBild: Paulina Safronova

Mit über 8000 Verfahren gegen Soldaten haben sich die russischen Gerichte seit Beginn von Russlands umfassendem Krieg gegen die Ukraine befasst. Im zweiten Kriegsjahr 2023 hat sich ihre Anzahl im Vergleich zu 2022 sogar verfünffacht. Pro Monat werden rund 700 Urteile gefällt, wie das unabhängige russische Webmagazin Mediazona berichtet. Meist handelt es sich um unerlaubtes Verlassen einer Militäreinheit (88 Prozent), seltener um Verweigerung von Befehlen (sechs Prozent) und um Fahnenflucht (drei Prozent).

In einigen Fällen verhängen Gerichte wegen unerlaubten Verlassens einer Militäreinheit jedoch nur Bewährungsstrafen, was der russischen Armee ermöglicht, die Verurteilten an die Front zurückzuschicken. Das sagt Iwan Tschuwiljajew von der russischen Bewegung "Gehe durch den Wald", die Deserteure unterstützt, gegenüber der DW. Ihm zufolge sind etwa 70 Prozent derjenigen, die sich in diesem Jahr hilfesuchend an die Organisation wandten, Vertragssoldaten.

Friedhof mit Kreuzen auf Gräbern gefallener Russen in der Region Krasnodar
Friedhof gefallener Russen in der Region KrasnodarBild: REUTERS

"Jeder von ihnen wurde praktisch auf die eine oder andere Weise gezwungen, einen Vertrag zu unterschreiben. Es gibt immer weniger mobilisierte Männer, weil viele schon umgekommen sind. Sie alle wollen fliehen, weil es nur zwei Möglichkeiten gibt: Entweder verrecken oder vor Gericht kommen", erläutert der Menschenrechtsaktivist.

Weit verbreitete Folterungen

In manchen Fällen würden sich Deserteure in den von Russland besetzten Gebieten der Ukraine verstecken, sagt Tschuwiljajew. Das sei gefährlich, denn wenn sie gefasst würden, drohten ihnen Folterungen wie das aufgezwungene Ausharren in einer tiefen Grube unter freiem Himmel sowie der Rücktransport an die Front. Diese Folter sei weit verbreitet und drohe Soldaten auch bei Alkoholkonsum, Streit mit Vorgesetzten und bei unerlaubtem Verlassen der Einheit. "Es kommt aber auch vor, dass man Kampfunwillige in Keller verlassener Gebäude, zum Beispiel einer Schule oder eines Krankenhauses, steckt und dort foltert. Nach einem Monat in einer solchen 'Zelle' unter unmenschlichen Bedingungen stimmt man allem zu, egal was", so Tschuwiljajew.

Unter denen, die fliehen wollen, sind viele Verwundete. Für die einfachste Fluchtmöglichkeit über ein Krankenhaus entschied sich Wladimir (vollständiger Name der DW bekannt) in der besetzten ukrainischen Region Donezk. 2022 wurde er in die russische Armee eingezogen, lehnte jedoch einen Vertrag ab. Wladimir kam im Laufe von zwei Jahren aufgrund von Verwundungen mehrmals ins Krankenhaus. Bevor er wieder an die Front sollte, floh er. Doch er wurde gefasst und in einem Keller gefoltert, wovon seine Angehörigen im Jahr 2024 erfuhren. Seine Frau berichtet, ihr Mann sei letztlich gezwungen worden, einen Vertrag mit der russischen Armee zu unterschreiben. Im April sei er dann in eine Angriffsbrigade geschickt worden und kurz darauf an der Front umgekommen.

In einem Telegram-Kanal zum Thema Mobilisierte aus der sogenannten "Donezker Volksrepublik" berichtet ein anderer Deserteur seine Geschichte. "Sie brachten uns in einen Raum ohne Bett und Fenster. Dort lagen auf feuchten Matratzen HIV- und Hepatitis-Erkrankte. Wir mussten auf dem Boden schlafen", schreibt er. Auch er berichtet von Folter durch Schläge und Elektroschocks. Denjenigen, die sich bereit erklärt hätten, sich einer Angriffsbrigade anzuschließen, sei eine Bewährungsstrafe versprochen worden.

"Nichts kann das Ausmaß des Grauens vermitteln"

Am 24. Februar 2022, als Russlands umfassende Invasion der Ukraine begann, diente Michail (Name geändert) bereits als Wehrpflichtiger in der russischen Armee. "Man hat uns nichts gesagt, es sah nicht danach aus, als würde es einen vollständigen Einmarsch geben. Dann dachten alle, dass sich alles schnell erledigt", so der junge Mann gegenüber der DW.

Aber die russische Invasion stieß in der Ukraine auf heftigen Widerstand. Im Sommer 2022 entschied sich Michail nach sechs Monaten Wehrdienst für einen Vertrag mit der Armee. Er sagt, ihm habe die soziale Sicherheit gefallen - ein gutes Gehalt, eine Hypothek für Militärs und andere Vorteile. Und auf das, was auf ihn zukommen würde, habe er sich mental eingestellt, mit Filmen über Krieg und Videos von echten Kämpfen. "Es schien mir, dass ich auf Tod, Verletzung und Verlust vorbereitet sei. Aber in Wirklichkeit kann nichts das Ausmaß des Grauens vermitteln, das im Krieg herrscht", erzählt er.

Fronteinsatz und Verletzung

Doch zunächst wurde Michail zu einer Brigade in Russland selbst geschickt. Dort sei ihm versprochen worden, vor Ort beschäftigt und nicht ins Kampfgebiet geschickt zu werden. "Morgens zur Arbeit und abends nach Hause", so habe er sich das vorgestellt, sagt Michail. Im September 2023 sei er dann zusammen mit einigen Kollegen unerwartet zu einer Aufklärungskompanie gerufen worden, wo ihnen mitgeteilt worden sei, dass man sie "zur Erledigung einiger Aufgaben" wegschicken würde. Sie wurden in ein Militärfahrzeug gesetzt und in die russische Region Belgorod, die an die Ukraine grenzt, gebracht.

Ein ukrainischer Soldat steht neben einem beschädigten russischen T-62-Panzer
Ein ukrainischer Soldat neben einem beschädigten russischen T-62-PanzerBild: Alina Smutko/REUTERS

"Die Front bei Charkiw war noch nicht eröffnet", erinnert sich Michail. Bis zum Frühjahr habe er Minen verlegt und im Juni schließlich die Grenze zur Ukraine überquert. Bei einem Angriff sei er verwundet worden. Im Krankenhaus sei auf einem TV-Gerät ständig russisches Fernsehen gelaufen, erzählt er und fügt hinzu: "Dort hieß es, alles würde gut laufen, dass ukrainische Soldaten in Massen gefangengenommen würden. Alle in meinem Zimmer lachten über diesen Blödsinn." Von den Männern, die mit ihm im Krankenhaus lagen, bereue einer, so Michail, sich für den Dienst in der russischen Armee entschieden zu haben. Aber der hohe Sold - rund 200.000 Rubel (über 2000 Euro) - habe den 40-Jährigen und Vater zweier Kinder angelockt.

Auch in Michails Brigade seien diejenigen gefoltert worden, die Befehle verweigert hätten. Auch sie seien in Gruben gesteckt worden, sie hätten lange schwere Kleidung und Ausrüstung am Körper tragen müssen, man habe ihnen Gewichte oder Felgen von Lastwagenrädern an die Füße gebunden.

Wenige wagen Fahnenflucht

Der Glaube an das Versprechen des Kremls, Kiew schnell einzunehmen, sei inzwischen von einer anderen Überzeugung verdrängt worden, meint Michail. "Die Politiker werden sich eh an einen Tisch setzen und sich einigen, aber die Toten wird man nicht mehr zurückholen können", sagt er und fügt hinzu, dennoch würden die meisten Soldaten nicht fliehen wollen, vor allem, wenn sie Familien hätten. "Wenn man 40 Jahre alt ist, Kinder und eine Wohnung hat, dann gleicht die Ausreise in ein anderes Land dem Tod", so Michail. Viele hätten auch Angst, ihre Familien nie wiederzusehen.

Er selbst habe Eltern in Russland, die seine Entscheidung zur Flucht aber akzeptiert hätten. Zunächst seien sie für den Krieg gegen die Ukraine gewesen, hätten jedoch ihre Meinung geändert, als sie von ihm über die wahren Zustände an der Front erfahren hätten.

Michail, der selbst mehrmals knapp dem Tode entkam, erinnert sich, wie er sich, um eine Zigarette zu rauchen, einmal von seinen Kameraden entfernt hatte, die in diesem Moment von einer Granate getroffen wurden. "Später musste ich ihre Leichenteile in schwarze Säcke einsammeln", sagt er regungslos. Dieser und ein weiterer ähnlicher Vorfall hätten ihn dazu gebracht, zu desertieren. Er wandte sich an die Bewegung "Gehe durch den Wald", die ihm zur Flucht aus Russland verhalf. Dies sei einfacher gewesen, als er gedacht habe, sagt er. Jetzt schmiedet Michail Zukunftspläne. "Ich möchte irgendwohin nach Costa Rica gehen und in der IT-Branche arbeiten", so der junge Mann.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk