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PolitikEuropa

Wie sich Europa gegen die Vogelgrippe stemmt

Christina Strunck
3. Oktober 2022

Tote Vögel an Europas Stränden, Container voller gekeulter Hühner - diese Bilder sieht man in Europa dieses Jahr auffällig oft. Denn die Vogelgrippe verhält sich anders als bisher.

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Vogelgrippe
Gekeulte Enten, Hühner, Küken - in diesem Jahr kein außergewöhnliches Bild für GeflügelhalterBild: Bob Edme/AP/picture alliance/dpa

Die vier Ställe sind normalerweise voll mit Hühnern - jetzt sind sie alle leer. Der Geflügelhalter Alrik Visscher aus Dalfsen in den östlichen Niederlanden hat alle 115.000 Legehennen, die er mit seinen Eltern hält, verloren. Dort, wo die Hühner eigentlich umherlaufen, Getreide picken und Eier legen, wird aktuell desinfiziert und geputzt.

Anfang August hatte Visscher erste Anzeichen von Vogelgrippe bei einigen Tieren des Familienbetriebes entdeckt – nur einen Tag später wurden alle seine Hühner gekeult, weil das hochansteckende H5N1-Virus nachgewiesen worden war. "Es ist ein Gefühlschaos: Du bist traurig und gleichzeitig weißt du, dass es so passieren muss”, sagt Visscher.

Alrik Visscher kniet im Gras, umgeben von Hühnern
Alrik Visscher und seine Eltern leben von den Einkünften durch den Eier-Verkauf. Jetzt muss die Familie warten, bis sie wieder neue Hühner in die Ställe lassen könnenBild: Alrik Visscher


Die aktuelle Vogelgrippe-Saison dauert nun schon ein Jahr, obwohl die Grippe unter Vögeln so wie bei Menschen normalerweise fast nur von Oktober bis April oder Mai ein Problem ist. Landwirte, Vogelschützer und die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) sind sich deshalb einig: Dieser Sommer war besonders. Das Virus hat sich an heimische Vögel angepasst und so hat die Vogelgrippe-Saison seit Oktober 2021 allein in den Niederlanden den Tod für von hunderttausenden Wildvögeln bedeutet. Mehr als vier Millionen Hühner, Enten und Küken mussten gekeult werden.

So wie bei dem Geflügelbauer Alrik Visscher."Eigentlich denkst du, du hast keine emotionale Verbindung zu den Tieren, weil du so viele hast, aber dann realisierst du es”, sagt Visscher. Doch nicht nur emotional sind die Landwirte betroffen, sie verlieren auch ihre Einnahmequelle. Für den Familienhof Visscher bedeutet der Verlust der Hühner einen finanziellen Schaden von rund 115.000 Euro.

Maßnahmen verhindern Ansteckungen nicht völlig

Kaum ein europäisches Land ist ohne Vogelgrippe-Fälle durch die aktuelle Saison gekommen, zeigt der neueste EFSA-Bericht. Demnach waren Wildvögel gerade in ihrer Brutzeit vor allem in Deutschland, den Niederlanden oder Frankreich von der Vogelgrippe betroffen. In diesen Ländern ist auch die Zahl der Fälle unter Hausgeflügel hoch. Ein Faktor, der die schnelle Ausbreitung des Virus begünstigt, ist die Dichte von Geflügelhöfen. Und die ist gerade in den Niederlanden besonders hoch. Das Virus kommt normalerweise im Oktober über Zugvögel, die hier überwintern, aus Asien nach Europa. In den Niederlanden werden dann zunächst oft wilde Wasservögel angesteckt – dann nimmt die Ansteckungskette ihren Lauf.

Ein leerer Hühnerstall, Federn liegen auf dem Boden
Leere Ställe - für Geflügelhalter nicht nur emotional, sondern auch finanziell ein großes ProblemBild: Alrik Visscher

Schon Windstöße mit Federn infizierter Vögel oder Mäuse, die Vogelkot an sich tragen, können das Virus in die Hühnerställe einschleppen. Dabei versuchen die Länder mit strengen Vorschriften, die Geflügelhöfe vor der Vogelgrippe zu schützen. Von Oktober des vergangenen Jahres bis in den Juli hinein durften Hühner in den Niederlanden ihren Stall nicht verlassen, in einigen Regionen gilt die Stallpflicht immer noch. Sobald ein Ausbruch festgestellt wird, gilt eine Schutzzone von drei Kilometern, in der alle Betriebe auf Vogelgrippe untersucht werden. Fällt ein Test bei einem Betrieb positiv aus, werden alle Hühner, Küken oder Enten dort gekeult. Das hochansteckende Virus tötet schnell, wie Visscher bei seinen eigenen Tieren bemerkt hat. Am ersten Tag fand er zehn tote Tiere, am nächsten Morgen waren es schon hunderte, die dem Virus erlegen waren. "Wir haben alles Menschenmögliche gemacht, damit das Virus draußen bleibt”, sagt Bart Jan Oplaat, Vorsitzender der Gewerkschaft der niederländischen Geflügelhalter. Die Regeln in Frankreich, dem zweitgrößten Geflügelproduzenten der EU, sind sehr ähnlich. Geholfen hat all das nicht.

Brandseeschwalbe fliegt, weitere Brandseeschwalben sitzen
Die Population der Brandseeschwalben war schon vor aktuellen Vogelgrippe-Ausbrüchen bedrohtBild: blickwinkel/M. Woike/picture alliance

Auch unter Wildvögeln ist das Ausmaß der Vogelgrippe verheerend. Ruud van Beusekom, Sprecher von Vogelbescherming Nederland, einer Organisation von Vogelschützern in den Niederlanden, macht sich insbesondere um die Brandseeschwalben Sorgen. Die Brandseeschwalben standen schon vor den aktuellen Vogelgrippe-Ausbrüchen auf der roten Liste der bedrohten Tierspezies in den Niederlanden. Die Population war gerade dabei, sich wieder zu erholen. Alleine in diesem Jahr sind aber 25.000 Tiere an der Vogelgrippe gestorben.

Geflügelhalter im selbstverordneten Lockdown

Eine Lösung des Problems ist aktuell kaum in Sicht. Zwar können Maßnahmen wie eine Stallpflicht und das frühzeitige Keulen aller Tiere auf dem Hof, wo es eine Ansteckung gab, die Gefahr der Verbreitung verringern - ganz verhindern können sie dies aber nicht. Auch bei Visschers galt eine Stallpflicht für die Tiere, nachdem bei einer nahen Entenfarm das Virus festgestellt wurde. Die Enten dort waren auch schon vor dem Ausbruch immer im Stall. Einige Geflügelhalter schränken sich laut Oplaat von der niederländischen Gewerkschaft der Geflügelhalter ähnlich wie während der Corona-Pandemie selbst ein, damit sie das Virus nicht in ihre Ställe einschleppen: Besuche auf anderen Höfen sind tabu, Meetings lieber online und wenn Kinder woanders zu Besuch waren, wo Hühner oder Enten gehalten werden, heißt es direkt nach dem Nachhausekommen: Schnell duschen und alle Schuhe gründlich säubern.

Impfung erst in den nächsten Jahren

Eine weitere Idee unter niederländischen Geflügelbauern: Engmaschige Netze, die Federn und andere Partikel, die das Virus in die Ställe einschleppen könnten, abfangen. Doch laut Oplaat hatten zwei Landwirte diese Netze aufgespannt und trotzdem die Vogelgrippe in ihrem Stall bekommen. Auch eine Impfung wird es in den kommenden zwei bis drei Jahren nicht geben. Tests von Vakzinen laufen aktuell in Frankreich und den Niederlanden, die EFSA beginnt bald damit, Daten für eine geeignete Impfstrategie zu sammeln – doch das wird mindestens bis in den kommenden Juli dauern. Bis ein kommerzielles Vakzin auf dem Markt ist, wird es dauern. Und selbst mit einer Impfung wäre die Vogelgrippe nicht schnell ausgerottet. Wilde Vögel können nicht geimpft werden. Und das Virus mutiert – deshalb ist es in diesem Jahr auch geblieben: Es hat sich an heimische Vögel angepasst. In seltenen Fällen wurde das Virus auch in anderen Säugetieren gefunden, die Gefahr für Menschen ist allerdings laut EFSA zurzeit sehr gering. Doch Vogelarten, die vorher nur selten Vogelgrippe hatten, sind jetzt stark betroffen. Die einzige Hoffnung unter Vogelschützern und Landwirten aktuell: Durchseuchung, sodass sich ausreichend Immunitätsschutz unter den Vögeln bildet.

Container mit gekeulten Hühnern vor Hühnerställen
Bis Impfungen gefunden sind, hilft nur eins: Vogelgrippe bei Wildvögeln und Geflügel schnell entdecken, hohe Hygienestandards - und im Zweifel infizierte Tiere keulenBild: Alrik Visscher

Der Geflügelhalter Visscher versucht jetzt wieder nach vorne zu blicken: Noch bis Ende Oktober werden alle Ställe gründlichst gereinigt und eventuell weitere Hygienemaßnahmen beschlossen, auch wenn sich die Familie sicher war, dass sie schon gute Maßnahmen ergriffen hatte. Nach und nach kommen ab November dann wieder neue Hennen in die Ställe. Visscher hofft, "dass es wie mit dem Coronavirus passiert, dass sich fast alle Vögel infizieren und die Wildvögel immun werden – und wir ein weniger gefährlicheres Vogelgrippen-Virus zurückbekommen.” Wenn die Zugvögel im Oktober wieder für den Winter aus Sibirien kommen, kann es sein, dass sie eine neue Variante der Vogelgrippe mitbringen.