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PolitikEuropa

Wie sich europäische Demokratien verändert haben

Gianna-Carina Grün
23. November 2023

Europa gilt als Festung der Demokratie. Doch auch hier beobachten Experten antidemokratische Entwicklungen.

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Data Story | Wie sich europäische Demokratien verändert haben
Bild: DW

In Europa wurde die Demokratie erfunden. Hier sind Wahlen frei und geheim, die Staatsgewalt geteilt und Grundrechte garantiert. Einer der Gründe, warum jedes Jahr Hunderttausende Menschen nach Europa flüchten - vor Krieg, Verfolgung und auf der Suche nach einem besseren Leben. 

Meist kommen sie aus Ländern, in denen keine Demokratie herrscht. Denn zunehmend sind Länder wie die in Europa in der Unterzahl: Inzwischen gibt es mehr Autokratien als Demokratien auf der Welt, wie der Demokratie-Bericht des V-Dem Instituts der Universität Göteborg beschreibt. Demnach leben derzeit etwa 72 Prozent, rund 5,7 Milliarden Menschen, in einer elektoralen oder geschlossenen Autokratie. In geschlossene Autokratien üben Einzelne unkontrolliert Macht aus, in elektoralen Autokratien gibt es zwar offiziell Wahlen, doch die sind nicht frei. Nur noch 13 Prozent der Weltbevölkerung lebt in einer der liberalen Demokratien - und die Mehrheit davon befindet sich in Europa.

Und obwohl Europas Demokratien zu den stärksten zählen, beobachten Experten auch hier besorgniserregende Entwicklungen. "Einige der dramatischsten Rückschläge, die wir als Autokratisierung bezeichnen, sehen wir auch in Europa. Am deutlichsten in Polen und Ungarn. Auch Griechenland ist ein aktueller und besorgniserregender Fall, obwohl der Rückgang der demokratischen Qualität dort noch nicht so dramatisch ist”, sagt Martin Lundstedt, Politikwissenschaftler und Ko-Autor des VDem-Demokratieberichts.

"Mit Polen und Ungarn sehen wir zwei EU-Mitgliedstaaten, die proaktiv den Rechtsstaat abbauen. Es geht nicht nur um Demokratie in diesen Ländern, sondern auch um die Zuverlässigkeit ihrer öffentlichen Institutionen, ihrer Verwaltungen, aber auch um Kompatibilität mit dem EU-Recht”, sagt Maria Skóra, Soziologin und Wirtschaftswissenschaftlerin am Institut für Europäische Politik in Berlin, wo sie mit Fokus auf die EU erforscht, was einen Rechtsstaat stark und widerstandsfähig macht. "Eine robuste Demokratie sorgt dafür, dass der Rechtsstaat gut funktioniert. Wenn der Rechtsstaat zusammenbricht, brechen auch andere Teile der demokratischen Systeme zusammen.”

Auch wenn die Entwicklungen in Polen und Ungarn am bedenklichsten sind, so sehen Lundstedt und Skóra auch in fast allen anderen Ländern Europas anti-demokratische Tendenzen. Denn populistische und rechtspopulistische Parteien verzeichnen Wahlerfolge und rücken immer mehr in den politischen Mainstream.

"In der Regel handelt es sich dabei um rechtsextreme Parteien, die entweder ein zweifelhaftes Bekenntnis zur Demokratie äußern oder der Demokratie offen feindlich gegenüberstehen. So greifen sie zum Beispiel oft Aspekte der Medien- und Versammlungsfreiheit an oder wollen die Machtteilung zwischen Exekutive, Parlament und Gerichten untergraben”, so Lundstedt.

Global überwiegt also der Trend zu immer stärkerer Autokratisierung. Doch es gibt zumindest ein paar Länder, in denen dieser Trend umgekehrt wurde. In Europa etwa sind die Demokratien in Nordmazedonien, Moldau und Slowenien wieder liberaler geworden.

Zufrieden mit ihrer Demokratie in ihrem Land ist bislang nur eine Minderheit in Moldau. Anfang 2023 waren laut einer Eurobarometer-Umfrage rund 81 Prozent der Menschen in Moldau nicht sehr oder gar nicht zufrieden mit der Demokratie in ihrem Land. Zum Vergleich: Im Schnitt traf das auf 42 Prozent der Europäerinnen und Europäer zu.

Überraschender sind die Umfragewerte für Polen und Ungarn: Denn während diese Länder immer autokratischer werden, sind hier gleichzeitig rund die Hälfte der Menschen zufrieden mit der Demokratie in ihrem Land. 

"Wir leben in sehr turbulenten Zeiten, in denen die Probleme wirklich komplex sind und es einfach keine einfachen Antworten geben kann. Aber gleich das ganze politische System, die Demokratie, abzuschaffen, ist keine Lösung. Es wäre gut, wenn Bürgerinnen und Bürger das verstehen würden und mehr Vertrauen in Politik hätten. Und dieses Vertrauen zu schaffen, ist die Aufgabe von Politikern”, sagt Skóra.

Was Bürgerinnen und Bürger tun können, um ihre Demokratien zu stärken

Inzwischen ist gut untersucht, welche Motive dazu führen, dass Menschen die Demokratie ablehnen oder antidemokratische Parteien wählen. "Häufig genannte Faktoren sind wirtschaftliche Ungleichheit, Menschen mit Statusangst, die sich sowohl wirtschaftlich als auch kulturell abgehängt fühlen. Dies ist in der Regel in ländlichen Gebieten häufiger der Fall und führt zu einer Kluft zwischen Stadt und Land. Spannungen und Spaltungen zwischen Sprachgruppen, ethnischen Gruppen und religiösen Gruppen können ebenfalls dazu beitragen, dass Menschen anti-demokratische Einstellungen unterstützen", sagt Lundstedt.

Daraus ergibt sich für Lundstedt auch beste Rezept dafür, was Bürger tun können, um die Demokratie in ihrem Land zu stärken: "Bürgerschaftliches Engagement innerhalb der Gesellschaft [ist ein zentraler Bestandteil]: indem man Menschen trifft, aus anderen Berufszweigen, mit anderen Hintergründen, aus anderen Stadtteilen, und sich so in einem tieferen Sinne in die Gesellschaft einbringt. Das kann der Beitritt zu einer politischen Partei, einem Fußballverein, einer Gewerkschaft oder einem Bücherkreis sein oder was auch immer Sie interessiert. Sich mit anderen Menschen zu treffen und mit ihnen zu interagieren, ist wichtig für die Qualität der Demokratie. Denn dadurch ist man eher in der Lage, die Perspektiven anderer nachzuvollziehen, und so werden Bürger meiner Meinung nach generell vertrauensvoller und respektvoller gegenüber dem demokratischen System.”

Mit Blick auf die Erkenntnisse aus skandinavischen Ländern nennt Maria Skóra noch einen weiteren Ansatzpunkt: "Also was Bürgerinnen und Bürger tun könnten, wäre vielleicht, dass sie selbst resilienter werden. Resilienz gegenüber Desinformation lernen, sich nicht manipulieren lassen von Fake News, und Falschmeldungen von legitimer Kommunikation unterscheiden zu können.” Hier sei natürlich die Politik gefragt, entsprechende Bildungsmaßnahmen zu schaffen.

Kira Schacht hat zur Recherche beigetragen. Redigiert von Peter Hille.

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