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Ukrainische Flüchtlinge in deutschen "Geisterdörfern"

Daniela Natalie Posdnjakova
28. Juli 2023

Im Braunkohlerevier im Westen Deutschlands gibt es verlassene Ortschaften, die abgebaggert werden sollten. Doch mittlerweile werden dort Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine untergebracht. Eine DW-Reportage.

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Verlassene Häuser im Braunkohlerevier
Verlassene Häuser im BraunkohlerevierBild: Daniela Natalie Posdnjakov/DW

Auf Google Maps sind im Westen Deutschlands, im Bundesland Nordrhein-Westfalen, drei große helle Flecken zu erkennen - es sind die drei Tagebaue Inden, Hambach und Garzweiler, wo der Energiekonzern RWE Braunkohle fördert.

Ganz in der Nähe gibt es Ortschaften, von denen einige seit Monaten, andere schon seit Jahren, verlassen sind. RWE hat die Häuser der Bewohner gekauft, die gegen eine Entschädigung in andere Orte umgesiedelt wurden. Ursprünglich sollten die leerstehenden "Geisterdörfer" abgebaggert werden, doch wegen des von der deutschen Bundesregierung beschlossenen Kohleausstiegs ist ihre Zukunft heute unklar.

"Wir beschweren uns über nichts"

Die Kohleförderung im Tagebau Hambach begann im Jahr 1978. Bis 2030 soll er abgeschlossen sein. Noch gleicht das Gebiet einer Mondlandschaft.

Blick auf dem Braunkohletagebau Hambach
Wo heute Kohle gefördert wird, befanden sich früher OrtschaftenBild: Daniela Natalie Posdnjakov/DW

Einst war hier ein Teil des Hambacher Forstes. Im Jahr 2018 kam es zu Protesten deutscher Umweltaktivisten, die vom RWE-Konzern forderten, den Tagebau einzustellen und den Wald zu bewahren. Ein Teil des Waldes konnte aber nicht gerettet werden, wie auch mehrere Ortschaften rund um den Tagebau. Zwei der noch verbliebenen "Geisterdörfer", die eigentlich auch abgebaggert werden sollen, sind Morschenich und Manheim.

Blick auf den Kirchturm im verlassenen Ort Manheim
Blick auf den Kirchturm im verlassenen Ort ManheimBild: Daniela Natalie Posdnjakov/DW

Wenn man nach Manheim kommt, sieht man ganze Häuserzeilen mit heruntergelassenen Rollläden und vernagelten Fenstern. Der Asphalt der Straßen hat Risse und die Lampen entlang der Straße sind kaputt. In der Ortsmitte steht eine katholische Kirche, auch ihre Fenster sind mit Sperrholzplatten verschlossen.

Einige noch gut erhaltene Häuser sind mit Stacheldraht umzäunt. Ein Schild weist darauf hin, dass es sich um Eigentum des RWE-Konzerns handelt. Am Ortsrand hingegen steht inzwischen nur noch so manche Ruine. Ein Hase rennt über die Straße und ein Fasan spaziert imposant durch das hohe Gras neben einer ehemaligen Bushaltestelle.

Eine kaputte Straßenlaterne im verlassenen Manheim
Eine kaputte Straßenlaterne im verlassenen ManheimBild: Daniela Natalie Posdnjakov/DW

Menschen sind hier nicht anzutreffen, theoretisch sollten hier auch keine mehr sein - wie im benachbarten Morschenich. Auch hier stehen reihenweise Häuser leer, auch ihre Fenster sind vernagelt und in den Vorgärten steht hohes Gras. Zu sehen ist eine Bushaltestelle, aber ohne Fahrplan. Auf den ersten Blick könnte man meinen, das sei ein weiteres "Geisterdorf".

Doch wenn man genau hinschaut, sieht man, dass an den Türen mehrerer Häuser weiße Papierblätter kleben. Auf einem stehen ukrainische Nachnamen, auf dem anderen arabische.

In einem dieser Häuser lebt ein junges ukrainisches Paar, das namentlich nicht genannt werden will. Sie sagen, sie seien seit Dezember 2022 in Morschenich. Das ursprüngliche Einfamilienhaus wird heute von mehreren Menschen bewohnt - es ist sozusagen ein kleines Wohnheim für Flüchtlinge. Hier leben eine ukrainische Familie aus dem Donbass und Flüchtlinge aus Syrien.

Bushaltestelle in Morschenich
Bushaltestelle in MorschenichBild: Daniela Natalie Posdnjakov/DW

"Wir beschweren uns über nichts - wir haben Strom, Wasser, Heizung, sogar Internet und Mobilfunk", sagt Denis (Name geändert). "Wir können nach Hause in die Ukraine anrufen. Vertreter der Stadtverwaltung kommen jede Woche und helfen uns mit den Papieren. Wir erhalten regelmäßig Sozialleistungen, nur haben wir bisher keine Sprachkurse bekommen", erzählt er weiter.

Dass es im Ort keine Geschäfte, keine Apotheken und auch keine Ärzte gibt, stört das Paar nicht. Denis‘ Frau Julia (Name geändert) sagt, sie fahre mit ihrem eigenen Auto ins Nachbardorf, um Lebensmittel einzukaufen. Neben dem Haus steht ein Auto mit ukrainischem Kennzeichen.

"Als wir hier ankamen, war uns zunächst nichts klar. Später wurde uns erklärt, was das für ein Ort ist. Aber zu Hause in der Ukraine waren wir drei Monate lang unter Beschuss und hier haben wir Ruhe", sagen die beiden und zeigen auf den Wald, der auf der anderen Seite des Feldes hinter einem Zaun beginnt.

"Da leben Umweltaktivisten, sie haben sich Häuser in den Bäumen gebaut, manchmal sehen wir sie. Aber sie stören uns nicht", sagt Denis. Ihm zufolge kommt die Polizei regelmäßig in den Ort, um nach dem Rechten zu sehen.

Straßen im verlassenen Morschenich
Straßen im verlassenen MorschenichBild: Daniela Natalie Posdnjakov/DW

In Morschenich leben inzwischen mehrere ukrainische Familien. Denis und Julia treffen sie meistens, wenn Behördenvertreter kommen oder wenn sie spazieren gehen. Es gibt nur einen Weg, der führt zum Feld oder Wald, wo man Brombeeren sammeln kann.

"Auf den ersten Blick ist es hier natürlich langweilig, aber wir gehen Beeren pflücken", sagt Julia. "Manchmal fahren wir in die Stadt, doch dort ist es so laut, dass wir froh sind, wenn wir wieder aufs Land zurückkehren", fährt Denis fort.

Sie geben zu, dass sie nicht wissen, wie lange sie an diesem Ort bleiben werden. "Es heißt, man wird dieses Dorf nicht abreißen. Die Stadtverwaltung hat uns hierher geschickt, aber zuerst waren wir in einem Flüchtlingslager in Bochum, also werden wir hier bleiben, bis man uns umsiedeln wird", so Julia.

Briefkasten an einem verlassenen Haus
Briefkasten an einem verlassenen HausBild: Daniela Natalie Posdnjakov/DW

Nach neuesten Plänen soll Morschenich tatsächlich nicht mehr verschwinden, denn der Tagebau soll wegen des Kohleausstiegs geschlossen werden. Dies bestätigte auch der RWE-Konzern auf Anfrage der DW.

"Die genannten Orte sind nicht mehr zur Abbaggerung vorgesehen. Wir haben die betreffenden Häuser und Wohnungen, die wir seinerzeit von umsiedelnden Familien gekauft haben, auf Wunsch den jeweiligen Kommunen für die vorübergehende Unterbringung von Menschen zur Verfügung gestellt, für die sie händeringend ein Dach über dem Kopf suchten", so RWE.

Ehemalige Schule als Flüchtlingsheim

Die Ortschaften Kuckum und Keyenberg liegen in der Nähe eines weiteren Tagebaus - Garzweiler II. Auch hier wurden die Bewohner gegen eine Entschädigung umgesiedelt. Schon bald sollen diese Orte verschwinden. Nebenan liegt Lützerath. Der Ort ist im Zuge der Proteste unter Beteiligung der schwedischen Klimaschutzaktivistin Greta Thunberg bekannt geworden. Lützerath sollte noch 2023 abgebaggert werden. Alle Straßen dorthin sind gesperrt. Möglicherweise existiert der Ort nicht mehr.

Ins benachbarte Keyenberg kann man hingegen fahren. Auch dort sieht es am Ortseingang auf den ersten Blick so aus, wie in den schon umgesiedelten Ortschaften. Es sind die gleichen engen Straßen, Reihen solider, aber leerer Häuser und eine katholische Kirche. Zu sehen ist zudem ein Kindergarten mit einem Spielplatz, der von Unkraut überwuchert ist.

Kinderspielplatz in Keyenberg
Kinderspielplatz in KeyenbergBild: Daniela Natalie Posdnjakov/DW

Ein paar Meter weiter steht das Schulgebäude, aus dem plötzlich mehrere Menschen kommen. Sie tragen Stühle heraus und stellen sie direkt auf den Schulhof. Draußen ist es heiß und ein Mann sagt, bevor er schnell wieder verschwindet: "Wir leben hier. Wir kommen aus Syrien." Ob er in der Schule wohnt oder nicht, ist unklar. Niemand der Menschen lässt sich auf ein Gespräch ein, alle gehen leicht verschreckt zurück ins Gebäude.

Neben der Schule befindet sich eine Bushaltestelle mit einem Fahrplan, denn der Ort wird nach wie vor vom öffentlichen Nahverkehr bedient. Und an der Tür einer Bäckerei in der Ortsmitte gegenüber der Kirche hängt auch ein Plan aus - es sind die Öffnungszeiten.

Der Laden ist nur an einigen Tagen der Woche wenige Stunden geöffnet. Richtige Geschäfte und Apotheken gibt es hier nicht mehr. Fast alle Ladenlokale stehen leer. Aber es gibt eine funktionierende Feuerwache. Und wie man an mehreren geparkten Autos sieht, sind einige Häuser im Ort sogar bewohnt.

Geschlossene Gaststätte in Keyenberg
Geschlossene Gaststätte in KeyenbergBild: Daniela Natalie Posdnjakov/DW

"Ja, in Keyenberg gibt es noch Bewohner, aber etwa 80 Prozent sind nach Erhalt der Entschädigung weggezogen. Ungefähr 15 bis 20 Prozent sind noch da", sagt Irina Becker, Mitglied der CDU-Fraktion im Stadtrat Bochum und stellvertretende Vorsitzende des NRW-Landesfachausschuss für Vielfalt und Integration.

Und sie fügt hinzu: "Derzeit leben hier auch Flüchtlinge, für die die alte Schule hergerichtet wurde. Auch mehrere Häuser dienen als Unterkunft - manche werden individuell genutzt, andere in Form einer Gemeinschaftsunterkunft. Es gibt Strom, Wasser und Heizung."

Die Infrastruktur sei noch erhalten, da unklar war, was mit dem Ort wegen des Kohleausstiegs passieren sollte. "Für die hier lebenden Flüchtlinge wurden Sprach- und Integrationskurse organisiert", so Becker, und die Kinder gehen in den Kindergarten".

Nach der Flutkatastrophe im Sommer 2021 wurde ihr zufolge in Nordrhein-Westfalen eine Einigung zwischen RWE und den Kommunen erzielt, insbesondere mit der Gemeinde Erkelenz, zu der auch Kuckum und Keyenberg gehören. Demnach sollte ein Teil der leerstehenden Wohngebäude in den "Geisterdörfern" als provisorische Unterkunft für Menschen genutzt werden, die Opfer der Wassermassen geworden waren.

Verlassenes Haus in Keyenberg
Verlassenes Haus in KeyenbergBild: Daniela Natalie Posdnjakov/DW

Auf Anfrage der DW bestätigte dies ein RWE-Sprecher: "Wir haben der Gemeinde Merzenich und der Stadt Erkelenz gerne geholfen, damit sie helfen konnten." Und heute sucht die Gemeinde Erkelenz laut ihrer Website nach wie vor Wohnraum, aber nun für ukrainische Flüchtlinge.

Wer schickt die Flüchtlinge in die verlassenen Orte?

Auch in Keyenberg lebt eine Familie mit einem Kind aus der Ukraine. Auch sie wollen ihre Namen nicht nennen, erzählen aber, dass sie "lange in Polen waren" und aus sozialen Netzwerken erfahren hätten, man könne nach Bochum fahren, um von dort in eine Großstadt zu gelangen - zum Beispiel nach Düsseldorf oder Köln. Doch am Ende wurden sie von der Landeserstaufnahme (LEA) in Bochum nach Erkelenz geschickt und landeten schließlich in Keyenberg.

Zugemauertes Fenster eines verlassenen Hauses in Keyenberg
Zugemauertes Fenster eines verlassenen Hauses in KeyenbergBild: Daniela Natalie Posdnjakov/DW

Die Verteilung der Flüchtlinge auf die Bundesländer und Gemeinden erfolgt automatisch nach Quoten. Ein LEA-Mitarbeiter weiß nie, wohin eine Person oder Familie kommt, bis der Name eines Ortes auf dem Computerbildschirm erscheint, erzählt Irina Becker der DW.

Von der Pressestelle der Landesregierung NRW gab es bis zum jetzigen Zeitpunkt keine Antwort auf die DW-Anfrage zu Flüchtlingen in den umgesiedelten Dörfern. Und die Pressestelle des Ministeriums für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen leitete die DW-Anfrage an die Gemeinden Erkelenz und Merzenich weiter, die aber wegen der Sommerferien für eine Stellungnahme derzeit nicht erreichbar sind.

Laut einer ukrainischen Flüchtlingsfamilie aus Keyenberg gefällt ihr dort alles. Noch wohnen sie alleine in einem Haus, aber bald soll eine weitere Familie aus der Ukraine dazukommen. Sie geben zu, dass sie über Keyenberg zunächst erschrocken waren.

"Aber hier ist es besser, als irgendwo in einer Turnhalle auf einer Liege", sagen sie und denken an Bekannte, die entsprechend untergebracht wurden. Solange in der Ukraine Krieg herrscht, wollen sie nicht in ihre Heimat zurückkehren. Vielleicht bleiben sie auch nach Ende des Krieges in Deutschland. "Mal sehen, im Moment ist alles in Ordnung. Das Dorf wird nicht abgerissen, vielleicht bleiben wir hier, wenn wir dürfen", sagen die Ukrainer.

Am Ortsausgang von Keyenberg
Am Ortsausgang von KeyenbergBild: Daniela Natalie Posdnjakov/DW

Die Ortschaften Keyenberg und Kuckum sollen tatsächlich nicht mehr verschwinden, bestätigte RWE gegenüber der DW - und zwar aufgrund des Kohleausstiegs und der Schließung des Tagebaus Garzweiler im Jahr 2030. Die Orte sollen nach einer Rekultivierung der Tagebaue Teil eines künftigen Erholungsgebietes werden.

Nach Angaben von Irina Becker von der CDU-Fraktion im Rat der Stadt Bochum sollen dort nur noch einzelne Häuser abgerissen werden, da sich der Wohnungsbestand größtenteils in einem guten Zustand befindet.

Die Häuser sind im Durchschnitt 50 Jahre alt. Keyenberg und Kuckum haben das Potenzial, sich von "Geisterdörfern" in "Zukunftsdörfer" zu entwickeln. Viele der ehemaligen Eigentümer versuchen inzwischen sogar, ihre Häuser zurückzukaufen. Aber noch wohnen Flüchtlinge in ihnen.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk