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Wie viele Opfer rechter Gewalt gibt es?

Marcel Fürstenau4. September 2013

Zwischen der offiziellen Statistik und den Opfer-Zahlen rechter Gewalt, die Journalisten und Beratungsstellen nennen, gibt es deutliche Unterschiede. Mit der Aufklärung der NSU-Mordserie könnten sie kleiner werden.

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Eine Gruppe Skinheads auf einer Demonstration in Berlin. (Foto: AP Photo/ Jan Bauer)
Bild: AP

Frank Jansen berichtet schon seit den 1990er Jahren über Neonazis und Opfer rechtsextremer Gewalt. Der Reporter des Berliner "Tagesspiegels" kennt also die Milieus, in denen Rassismus wächst und gedeiht: Parteien wie die NPD, Kameradschaften, Rechtsrock-Konzerte. In zahllosen Strafprozessen hat Jansen die menschenverachtende Ideologie von Leuten erlebt, die andere wegen ihrer Hautfarbe und Herkunft zusammenschlagen oder sogar ermorden. Bei seinen Recherchen beschlich ihn zunehmend das Gefühl, seine eigene Wahrnehmung über das Ausmaß des rechtsextremen Terrors würde sich deutlich von der staatlichen unterscheiden.

Jansen machte das an der offiziellen Statistik über Todesopfer rechter Gewalt fest. Die von Behörden und Ministerien veröffentlichten Zahlen kamen ihm viel zu niedrig vor. Und so machte er sich mit ein paar Kollegen daran, sie mit den eigenen Erkenntnissen abzugleichen. Im September 2000 veröffentlichten sie ihr erstes Ergebnis: 93 Todesopfer rechter Gewalt seit der deutschen Wiedervereinigung 1990. Die Bundesregierung sprach zur Jahrtausendwende lediglich von 48 Toten.

Porträt des Journalisten Frank Jansen (Foto: dpa)
Engagierter Rechtsextremismus-Experte: Der Journalist Frank JansenBild: picture-alliance/dpa

Das Opfer eines verurteilten Nazis fehlte in der offiziellen Liste

In der staatlichen Statistik habe sogar der Fall des zu lebenslanger Haft verurteilten Polizisten-Mörders Kay Diesner gefehlt, wundert sich Frank Jansen noch heute. Der Journalist hat 1997 den Prozess gegen den bekennenden Neonazi beobachtet. Der habe sich selbst als "politischer Soldat" bezeichnet. Das Lübecker Landgericht bescheinigte Diesner eine fremdenfeindliche Gesinnung, berichtete Jansen am Freitag (30.08.2013) auf einer Konferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin zur kriminalistischen Erfassung rechtsextremer Straftaten. "Und trotzdem war dieser Fall bis 2000 offiziell nicht als rechtsmotiviertes Tötungsverbrechen anerkannt."

Nach dem Auffliegen des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) im November 2011 ist der Blick in den Behörden nochmals geschärft worden. Die Terrorgruppe hat mutmaßlich neun Migranten und eine Polizistin ermordet. Jahrelang wurde fast nur im Bereich der organisierten Kriminalität und sogar des familiären Umfelds ermittelt, rassistische Motive wurden hingegen weitgehend ausgeschlossen. Unter dem schockierenden Eindruck dieser Fehleinschätzung würden nun rund 4000 Straftaten nachträglich auf einen rechtsextremen Hintergrund überprüft, berichtete ein Staatsschützer des Bundeskriminalamtes (BKA) auf der Fachkonferenz in Berlin.

Thüringens Justizminister: Der Staat "mogelt"

Die Opfer-Liste des Journalisten Frank Jansen umfasst inzwischen 152 Namen. Zuletzt sei sie im März "mit Blick auf den NSU-Prozess" aktualisiert worden, betont der Reporter. Seit dem Frühjahr findet vor dem Oberlandesgericht (OLG) in München der Prozess gegen die mutmaßliche Terrorgruppe und ihre Helfer statt. Die Zahl 152 ist noch immer viel größer als die offizielle. In der staatlichen Statistik werden 63 Menschen als Todesopfer rechter Gewalt geführt. "Und ich kann mir nicht ganz verkneifen zu sagen, dass davon ungefähr 20 aufgrund unserer Liste nachgemeldet worden sind", kommentiert Jansen diese aus seiner Sicht viel zu kleine Zahl.

Passanten betrachten in Rostock ein Plakat mit den Fotos der NSU-Opfer. (Foto: Stefan Sauer dpa/lmv)
Plakat zum Gedenken an NSU-Opfer: Ihre Namen fehlten lange in der offiziellen StatistikBild: picture-alliance/dpa

Der Thüringer Justizminister Holger Poppenhäger (SPD) bezeichnet die grundverschiedenen Wahrnehmungen als "Differenz zwischen dem Gerechtigkeitsgefühl und dem Rechtsstaat". Der Staat "mogele", um das Problem des Rechtsextremismus nicht so groß erscheinen zu lassen. Das würden nicht nur die Opferschutz-Verbände behaupten, sagt der Justizminister jenes Bundeslandes, aus dem die mutmaßlichen NSU-Mörder stammen.

Keine einheitliche Definition für Rechtsextremismus

Die großen statistischen Unterschiede sind aber nicht nur die Folge mangelnder Sensibilität im Umgang mit Rechtsextremismus. Davon ist der Statistik-Experte im Bundesjustizministerium, Bert Götting, überzeugt. Es gebe keinen einheitlichen Begriff, der für Polizei, Staatsanwaltschaft, Justiz und Opferberatungsstellen gleichermaßen gelte. "Was ist rechtsextrem?", fragt Götting. "Was ist fremdenfeindlich? Was ist antisemitisch?" Wie seien Zweifelsfälle zu beurteilen? Außerdem spiele die persönliche Einschätzung der Person eine große Rolle, die in den verschiedenen Behörden den Fall bearbeitet. Und auf Bundesebene fehle eine gesetzliche Regelung, die die Erfassung statistischer Daten im Bereich der Justiz regele, bedauert Statistik-Experte Götting.

Die vielen Schwachstellen in Behörden und Ministerien waren auch Thema des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages, der neulich seinen Abschlussbericht vorgelegt hat. Am Montag (2.09.2013) fand dazu im Parlament eine Sondersitzung statt. In dem rund 1500 Seiten starken Report stehen auch Empfehlungen, wie Rechtsextremismus früher erkannt und besser bekämpft werden könnte.

Auch Medien haben rassistische Motive übersehen

Für unabdingbar wird ein Mentalitätswandel in Polizeibehörden und Verfassungsschutzämtern gehalten. Dort hätten sich über Jahrzehnte Vorurteile und Klischees gegenüber Einwanderern verfestigt, lautet ein wesentlicher Befund. Nicht zuletzt daran dürfte es liegen, dass die offiziellen Zahlen über Opfer rechter Gewalt so viel kleiner sind, als die von Beratungsstellen und Journalisten. Im Fall der NSU-Mordserie haben aber auch die Medien über viele Jahre die wahren Hintergründe nicht erkannt. Frank Jansen, der engagierte Rechtsextremismus-Experte vom Berliner "Tagesspiegel", kann sich rückblickend nicht erklären, warum sogar er die rassistischen Motive der Täter übersehen hat.