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"Wir dürfen die Mädchen nicht vergessen!"

Adrian Kriesch14. April 2015

Seit einem Jahr sind mehr als 200 in Chibok entführte Schülerinnen spurlos verschwunden. DW-Korrespondent Adrian Kriesch findet bei den Eltern im Nordosten Nigerias viel Verzweiflung - und beeindruckende Stärke.

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Ein weinender Mann. Foto: Adrian Kriesch
Bild: DW/A. Kriesch

Lawal Emos ballt seine Faust zusammen und knetet seine Finger. Er hatte sich fest vorgenommen nicht zu weinen, wenn er über Comfort spricht. Ein liebes Mädchen sei sie, sagt Emos, immer hilfsbereit und zielstrebig. Comfort ist seine 17-jährige Tochter - und vor einem Jahr wurde sie von Boko Haram aus ihrer Schule im Dorf Chibok entführt.

Emos hat mit seiner Frau und den verbliebenen fünf Kindern Chibok mittlerweile verlassen, ist wie zehntausende andere in die 270 Kilometer entfernte Stadt Yola geflüchtet. Er ist abgemagert in den letzten Monaten, ein Feld kann der ehemalige Farmer in der Stadt nicht bestellen. Seine Familie überlebt nur dank unregelmäßiger Spenden von Freunden und dem Roten Kreuz.

"Das ständige Weinen hat sie umgebracht"

"Haben Sie ein Foto von Comfort?", frage ich. Da bricht der Familienvater doch in Tränen aus. Immer wenn er ihr Bild sieht, sagt Emos, muss er weinen. Die Fotos seiner Tochter hat er deshalb in Chibok gelassen.

Es ist das dritte Mal seit der Entführung der Schülerinnen, dass ich für die DW in Yola bin, im Nordosten Nigerias. Und es ist das dritte Mal, dass ich im Gespräch mit den Eltern entführter Mädchen Wunden aufreiße. Tränen fließen, ich filme und habe dabei ein ungutes Gefühl. Lawal Emos kennt zwölf Mütter und Väter, die seit den Entführungen gestorben sind: "Das ständige Weinen und Denken an ihre Töchter hat sie umgebracht." Emos und seine Frau Hauwa erwischen sich manchmal selbst beim Gedanken daran, dass es einfacher für sie wäre, wenn sie wüssten, dass ihre Tochter tot sei. "Ich habe meine Hoffnung in die Politiker verloren, die machen doch eh nichts", sagt die Mutter. "Nur Gott kann uns noch helfen, sie zu finden - tot oder lebendig. Aber unsere Regierung: Vergiss es!"

Eine geflüchtete Familie. Foto: Adrian Kreisch
Die geflüchtete Familie Emos und ihre Nachbarn in YolaBild: DW/A. Kriesch

Drei Wochen nach der Entführung im April 2014 bekennt sich die islamistische Terrorgruppe Boko Haram dazu. Seit sechs Jahren mordet die Terrorgruppe, vor allem im Nordosten Nigerias. Anfangs lehnte sie sich gegen den korrupten Staat auf, doch mittlerweile sind ihre Ziele immer unklarer. Tausende Dorfbewohner werden bei Überfällen und Anschlägen ermordet, Christen und Muslime. Die entführten Mädchen, kündigt Anführer Abubakar Shekau in einer seiner wirren Reden an, würden als Sklaven verkauft.

Proteste, Hilfsangebote, Kriegserklärung

Es folgt ein internationaler Aufschrei. Auf der ganzen Welt gehen Menschen für die Chibok-Mädchen auf die Straße, der Hashtag "#bringbackourgirls" erobert Twitter. Nigerias Nachbarländer erklären Boko Haram den Krieg, die USA schicken Militärberater. Am 26. Mai verkündet der oberste Befehlshaber der Streitkräfte, Alex Badeh, dass der Aufenthaltsort der Mädchen bekannt sei, ein Angriff aber zu gefährlich.

Der Politikwissenschaftler Edgar Emos. Foto: Adrian Kriesch
Edgar Amos, Politikwissenschaftler aus Yola: "Natürlich kann man noch hoffen - aber die Chance ist sehr klein"Bild: DW/A. Kriesch

Drei Monate nach der Entführung trifft Präsident Goodluck Jonathan mit seiner Frau das erste Mal die Eltern der Mädchen. "Er hat gesagt: Innerhalb von drei Wochen habt ihr alle eure Töchter zurück. Und innerhalb von drei Wochen werden wir alle zerstörten Schulen in der Region renovieren", erinnert sich Lawal Emos aus Chibok. "Die drei Wochen sind vergangen, dann mehrere Monate - und nichts ist passiert."

Stattdessen überfällt Boko Haram beinahe täglich Dörfer. Das Militär scheint hilflos. Ausländische Reporter dürfen nur noch mit Sondergenehmigung des Militärs ins Krisengebiet reisen, aber der Pressesprecher der Armee mag keine ausländischen Reporter. Bis Chibok durften wir nie reisen, auch diesmal nicht. Auch der Präsident war nie selbst vor Ort.

Entführte Mädchen sitzen auf dem Boden. Foto: (AP Photo/File)
Das erste und letzte Bild der entführten Mädchen, das Boko Haram in einem Video im Mai 2014 zeigteBild: picture alliance/AP Photo

"Das Vertrauen in das Militär ist so gering wie nie"

Mitte Oktober tritt Armeechef Badeh erneut vor die Presse: Ein Waffenstillstand sei unterzeichnet worden, die Mädchen kommen frei. Wieder eine Lüge. Kurz vor den Wahlen startet Nigerias Armee gemeinsam mit den Nachbarländern plötzlich eine Offensive und drängt Boko Haram seitdem zurück. Viele Nigerianer glauben, dass der Zeitpunkt mitten im Wahlkampf nicht ganz zufällig ist. "Das Vertrauen in das Militär ist so gering wie noch nie", sagt der Journalist Umar Faruq Baba-Inna aus Yola. Der Aufschrei im Internet wird leiser, auch in Nigeria gehen nur noch wenige Aktivisten für die Chibok-Mädchen auf die Straße. Viele Beobachter glauben, dass sich ranghohe Militärs an dem massiven Sicherheitsetat bereichern und kein Interesse an einem Ende des Konfliktes haben. "Die neu gewählte Regierung von Muhammadu Buhari hat viel Arbeit vor sich, um das Vertrauen in Politik und Militär wieder herzustellen", so Baba-Inna.

In den Hochburgen des Terrors hat die Oppositionspartei von Buhari überall klar gewonnen. Auch der Familienvater Lawal Emos hat für den ehemaligen General gestimmt, der versprochen hat, Boko Haram in nur sechs Monaten zu zerschlagen. Der politische Berater Edgar Amos aus Yola zweifelt jedoch daran, dass Buhari die Chibok-Mädchen finden wird: "Ein ganzes Jahr ist vergangen und sie sind in den Händen von herzlosen, brutalen Terroristen, die Grausamkeiten gegen Unschuldige begehen. Realistisch gesehen ist es schwer zu behaupten, dass wir alle Mädchen gesund wiederfinden."

Menschen mit einem Plakat. Foto: Katrin Gänsler
Demonstrieren seit einem Jahr in der Hauptstadt Abuja: Vertreter der Kampagne "#bringbackourgirls"Bild: DW/K. Gänsler

Glaubt Vater Lawal Emos an "realistische Chancen"? Ich frage ihn nicht danach. "Danke, dass ihr weiter über unsere Töchter berichtet", sagt er zum Abschied. "Das bedeutet uns viel, wir dürfen die Mädchen nicht vergessen!" Ich bin erleichtert. Emos macht mir keinen Vorwurf für das Aufreißen der Wunden. Aber vor allem: Seine Augen strahlen optimistisch, sein Handdruck ist fest. Er hat auch noch nach einem Jahr diese bewundernswerte Kraft, die er wohl auch noch in den nächsten Wochen und Monaten, vielleicht sogar Jahren brauchen wird.