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Wir sind dann live

Marcus Bösch9. November 2012

Früher brauchte man schweres Gerät, um Livebilder von einem Ort zu einem anderen Ort zu befördern. Heute braucht man nur ein Mobiltelefon. Marcus Bösch erwartet die totale Live-Schaltung der Welt.

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Ein Mann filmt mit einer antiken Filmkamera. Schwarz-weiß-Foto, gemeinfrei

Damals, also ungefähr vor zehn Jahren, lag ich in einem österreichischen Landgasthaus in einem vollkommen aus Holz gezimmerten Gästebett und schaute zusammen mit meiner Tochter in aller Seelenruhe die Sendung “Herzblatt”: eine Kuppel-Show, bei der das frisch zusamenverkuppelte Paar am Ende der Sendung im so genannten Herzblatt-Hubschrauber entschwebt, um an einem romantischen Ort einen romantischen Tag zu erleben.

Gut soweit. Jetzt kommt die Pointe. Das Paar im Fernsehen landet also mit dem Hubschrauber, wird in eine Pferdedroschke verladen und die fährt prompt – ich schwöre, es ist wahr – an dem Landgasthaus vorbei, in dem wir gerade sind. Ein verstörender Moment. Schließlich befinden wir uns hier in der Mitte von Nirgendwo und nicht etwa auf dem Alexanderplatz, mitten in Berlin. Wir werden beim Beobachten beobachtet. Einzig: Es fehlt der Rückkopplungsound.

277.845

Ich musste an diese skurrile Situation denken, als ich kürzlich in der Badewanne lag und dabei den Livestream einer Konferenz über Cyborgs in Portland verfolgte. Ich hatte gerade bei Twitter davon gelesen, das Badewasser eingelassen und den Laptop recht wackelig auf dem Waschbecken deponiert, als mir der Gedanke kam, dass das zwar alles toll, aber irgendwie doch reichlich absurd war.

Ein Eichhörnchen auf einer alten Filmkamera. Foto: gemeinfrei

Erstens, weil ich ich mir überhaupt gar nicht vorstellen konnte und mochte, wer alles noch wo und wie gerade zuschaute. Und zweitens, weil der Livestreaming-Dienst UStream, den die kanadischen Nerds zur Übertragung ihrer bisweilen recht obskuren Veranstaltung nutzten, bis zum Bersten mit weiteren Livestreams angefüllt war. Neben der Übertragung aus Portland gab es verwackelte Live-Videostreams von Geburtstagen in Italien, Sportveranstaltungen in Australien und gefühlten 277.845 anderen Vorkommnissen irgendwo anders auf dem Planeten.

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Ich nehme mal stark an, dass das erst der Anfang ist. In Zukunft wird alles live übertragen. Denn wir reden hier nicht von irgendwann hochgeladenen Videos bei YouTube, sondern von Livestreams. Jetzt. Dafür braucht man heutzutage nur ein Smartphone. Davon werden derzeit weltweit ungefähr eine Milliarde verwendet. Glaubt man Analysten, dann dauert es nur noch zwei Jahre und dann werden es zwei Milliarden Smartphones auf Erden sein. Und so weiter.

Bald kann jeder und jede alles immer live ins Netz streamen. Nimmt man die schwer in Mode kommenden Themen Hobby-Kameradrohnen, Google Glasses und das so genannte Internet der Dinge mit dazu (natürlich kann man auch alle Dinge mit einer Kamera ausstatten) ergibt das ein schönes Sammelsurium an Live-Videos. In absehbarer Zeit wird es kaum noch von Menschen erschlossene Gebiete geben, die nicht gerade aus diversen Perspektiven live zu sehen sind.

1,2 oder 3

Daraus ergeben sich folgende Optionen: 1. Wir werden die Häuser nicht mehr verlassen, uns hinter schweren Vorhängen verstecken oder in alten U-Bahnschächten Zuflucht suchen. 2. Die kosmetische Chirurgie wird noch schönere Möglichkeiten finden uns zu verändern, damit wir entweder unsere Identität tarnen können oder zumindest im Livestream gut aussehen. 3. Alles kommt wie immer anders und an die Stelle des Mobiltelefons in der Tasche tritt ein handlicher Elektromagnet, der sämtliche Kameras in der Nähe außer Gefecht setzt.

#video#

Marcus Bösch war irgendwann 1996 zum ersten Mal im Internet. Der Computerraum im Rechenzentrum der Universität zu Köln war stickig und fensterlos. Das Internet dagegen war grenzenlos und angenehm kühl. Das hat ihm gut gefallen.

***ACHTUNG: NUR im Zusammenhang mit der Netzkolumne "Digitalitäten" benutzen!*** Bild von Marcus Bösch für die DW, September 2012
DW-Netzkolumnist Marcus BöschBild: DW/M.Bösch

Und deswegen ist er einfach da geblieben. Erst mit einem rumpelnden PC, dann mit einem zentnerschweren Laptop und schließlich mit geschmeidigen Gerätschaften aus aalglattem Alu. Drei Jahre lang hat er für die Deutsche Welle wöchentlich im Radio die Blogschau moderiert. Seine Netzkolumne gibt es hier jede Woche neu.