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Literatur

"Wir sterben lieber frei als versklavt"

24. Februar 2023

Blutgetränkter Boden, freiheitsliebende Donkosaken und eine Familie, die unter verschiedenen Herrschern zu überleben versucht. Der Roman "Aleksandra" von Lisa Weeda zeichnet ein Jahrhundertpanorama der Ukraine.

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Lisa Weeda und ihr Großmutter Aleksandra haben die Köpfe aneinander gelehnt und lächeln in die Kamera.
Autorin Lisa Weeda und ihre Großmutter Aleksandra verstehen sich bestens - doch über die Ukraine sprachen sie lange nicht Bild: Privat

Sie hat den Holodomor überlebt und wurde später von den Nazis als Fremdarbeiterin nach Deutschland verschleppt. Nach dem Zweiten Weltkrieg baute sie sich in den Niederlanden eine neue Existenz auf: die Ukrainerin Aleksandra. In ihre alte Heimat fuhr sie nicht mehr gerne: "Was soll ich da noch? Bei jedem Besuch muss ich Gräber anstarren. Und es werden immer mehr." 

Buchcover von "Aleksandra" von Lisa Weeda. Es zeigt einen Ast vor blauem Hintergrund.
In den Niederlanden ist "Aleksandra" ein Bestseller

Aleksandras Enkelin Lisa Weeda hat ein Buch nach ihr benannt und die Geschichte ihrer Familie mit dem Schicksal der Ukraine verwoben. Als der Roman, der nun erstmals auf Deutsch vorliegt, 2021 in den Niederlanden erschien, hatte Russland noch nicht seinen Angriffskrieg gegen die ganze Ukraine gestartet. Doch schon lange versucht Putin, das Land zu destabilisieren. 

Die russische Propaganda stellte die Maidan-Proteste für eine stärkere Annährung an die EU als vom Westen finanzierten Umsturz dar, zumal der russlandfreundliche Präsident Viktor Janukowytsch schließlich aus dem Land floh. Russland nutzte die Unruhe, um 2014 die Halbinsel Krim zu annektieren; im Osten der Ukraine, dem Donbas, wurden zeitgleich die russlandgesteuerten Volksrepubliken Donezk und Luhansk ausgerufen - beide international nicht anerkannt und seitdem heftig umkämpft.

Im Palast der Donkosaken

Weedas halb fiktiver, halb realer Roman setzt ein, als ihre Protagonistin Lisa nach Luhansk einreisen will, um das Grab ihres Onkels Kolja zu suchen. Ihre Großmutter hat sie darum gebeten, dort ein Tuch abzulegen, auf dem sie alle Namen der Familie eingestickt hat: rote Fäden für das Leben, schwarze Fäden für den Tod. Der Soldat am Checkpoint weist sie ab: "Dieses verfluchte Geburtsland deiner Oma ist kein Land für eine Stippvisite, es ist zu gefährlich. Do swidanija (Auf Wiedersehen)!", herrscht er sie an. Doch Lisa gelingt die Flucht über ein Kornfeld - und sie landet plötzlich in der Vergangenheit: im magischen Palast der Donkosaken. In seinen zahlreichen Räumen reist Lisa durch das Jahrhundert. "Jedes Zimmer zeigt einen Teil der Familiengeschichte, aber auch des Schicksals der Ukraine", so Lisa Weeda im Gespräch mit der DW. Immer an ihrer Seite: Ihr Urgroßvater Nikolaj, der sich sein ganzes Leben nach seiner Tochter Aleksandra gesehnt hat und ihr doch empfohlen hat, im Westen - in Sicherheit - zu bleiben statt unter Stalins Gewaltherrschaft zu leben.

Fotos vom selbsternannten Führer der Voksrepublik Luhansk, Leonid Pasechnik, und Putin stehen neben einer Box mit Stimmzetteln.
Im Herbst 2022 wurde in Luhansk ein Scheinreferendum durchgeführt; seitdem beansprucht Putin das Gebiet als russisches Territorium Bild: AP Photo/picture alliance

Die Autorin hat sich erst spät für die Geschichte ihrer Vorfahren interessiert. Ihre Großmutter habe lange nicht über ihr Leben in der Ukraine und der Sowjetunion gesprochen, nachdem sie in den Niederlanden geheiratet habe, erzählt Lisa Weeda der DW. Zwar sei die Verwandtschaft oft zu Besuch gekommen, aber dann habe man Amsterdam und die berühmten Tulpenfelder besucht. "Ich habe lange nicht gewusst, dass Donkosaken-Blut in meinen Adern fließt" - nicht einmal, was ein Donkosak eigentlich sei. 

Kupferstich zeigt reitende Kosaken.
Die Donkosaken galten als hervorragende Reiter und Krieger Bild: akg-images/picture alliance

Sie begann zu recherchieren: Weedas Vorfahren mütterlicherseits lebten im Donbas, es waren freie Krieger, die im 17. Jahrhundert ein Art Vorläufer des ukrainischen Staates gründeten, bis er vom Zarenreich zerschlagen wurde. Sie wollten nie Teil der Sowjetunion sein und wurden deshalb in Scharen deportiert und ermordet. Für die heutigen Ukrainer ist ein Donkosak ein Held, der seine Heimat verteidigt und sich nie unterwirft. Und so ist der Wahlspruch "Wir sterben lieber frei als versklavt" für Lisa Weeda der Schlüsselsatz ihres Romans. "Aber beim Schreiben habe ich mich immer wieder gefragt, wie ich am besten darstelle, dass es nicht einfach ist, frei zu sein, wenn man immer unterdrückt wird?"

Dunkle Wolken über dem Donbas

Die niederländische Autorin hat sich deshalb für ganz besondere Wesen entschieden, die immer wieder im Buch auftauchen - Hirsche mit einem Pfeil im Rücken: "Es sind starke Tiere, aber sie sind auch verwundet. Für mich symbolisieren sie den Donbas und die ukrainische Geschichte", sagt sie. "Die Hirsche sind wie die Urväter, die die Geschicke des Landes genau kennen. Sie sollen den Leser an die Hand nehmen und ihm den Weg durch die dunklen Zeiten weisen." Und doch sei man als Leser ebenso hilflos wie als Familienmitglied. "Wir können nur von der Seitenlinie aus zugucken, wie immer dunklere Wolken auf den Donbas zukommen."

Ein Soldat geht an zerstörten Häusern vorbei. Die Straßen sind leicht vom Schnee bedeckt.
Im Donbas herrscht seit 2014 KriegBild: Edgar Gutiarrez/ZumaPress/picture alliance

Wolken, die man in diesem Landstrich seit Jahrhunderten kennt: "Die Seite, auf der wir standen, verschob sich dauernd", sagt Aleksandras Vater Nikolaj im Buch. "Es war nie unsere Entscheidung." Sein Freund Oleg ergänzt: "Es wurde zu viel Blut auf unserem Grund und Boden vergeudet, darüber muss neue Erde kommen, saubere Erde. Doch man lässt dem Boden keine Zeit."

Hungersnot und Zwangsverschickung

Zurück im magischen Palast der Donkosaken, wo Lisa ihre Großmutter als junges Mädchen erlebt. Die Zeit der unbeschwerten Kindheit ist kurz, schon bald konfiszieren Stalins Schergen die Ernten der Kleinbauern, um sie am Ende als "Kulaken" - angebliche Großgrundbesitzer - ganz von ihrem Land zu vertreiben. Die große Hungersnot beginnt: der als Holodomor in die Geschichte eingegangene Völkermord.

 Im Buch droht Lisa immer wieder von Unmassen von Getreidekörnern verschüttet zu werden, als sie sich durch den Palast bewegt. Ein Symbol dafür, dass die Erbauer das Korn gestohlen haben, um mit der verkauften Beute kolossale Gebäude als Zeichen der Macht zu finanzieren. "Als ich 2018 in Moskau war, fühlte ich mich wie ein Nichts. Die monumentale Architektur erschlägt dich. Und diesen Palast der Sowjetunion in meinem Buch wollte Stalin wirklich bauen, es war eines der ehrgeizigsten Projekte unter seiner Herrschaft. Er sollte im Herzen Moskaus entstehen."

Weizenfeld in der Luhansk Region bei Sonnenschein.
Goldgelb wogende Weizenfelder bis zum Horizont: So kannte Aleksandra ihre Heimat in Kindertagen Bild: Alexander Reka/TASS/dpa/picture alliance

Doch so weit kam es nicht. Die Nazis marschierten in die Ukraine ein. Viele, die unter Stalin unendlich gelitten hatten, auch Nikolajs Familie, hofften auf bessere Zeiten - ein tragischer Trugschluss. Aleksandra wird, wie so viele junge Mädchen, ihrer Familie entrissen und als Zwangsarbeitern nach Deutschland gebracht. Nach dem Krieg heiratet sie einen Holländer und besucht 1973 zum ersten Mal wieder die alte Heimat.

Schlimme Nachrichten für Aleksandra

Jetzt ist Aleksandra 98 Jahre alt. Sie hat länger in den Niederlanden als in der Ukraine gelebt und doch immer Kontakt zur Familie gehalten. "Aber die letzten Jahre waren sehr hart für sie", erzählt ihre Enkelin. "Sie ist immer noch stark und möchte am liebsten alles allein stemmen. Aber wir haben Kolja und Igor verloren. Das war ein großer Schock für sie." Die beiden Cousins wurden ermordet, erfahren wir im Buch, weil sie den neuen Machthabern in Luhansk widersprachen.

Ein weinendes älteres Paar steht an einem Sarg, hinter ihnen Fahnen mit Heiligenbildern und Soldaten.
Nicht nur Soldaten, auch viele Zivilisten fielen dem Krieg in Luhansk schon zum Opfer Bild: Viacheslav Ratynskyi/REUTERS

Auch der Angriff der Russen auf die Ukraine macht Aleksandra sehr zu schaffen - ebenso wie die Tatsache, dass ihre geliebten Verwandten auf unterschiedlichen Seiten stehen. "Unser Blut fließt immer weiter auseinander, wie der Donez (ein Fluss in der Ostukraine, Anm. d. Red.), der uns immer stärker trennt, nicht nur auf der Landkarte...Ich weiß nicht, ob wir uns am Ende wieder zusammenraufen können", sagt ihr Vater Nikolaj im Buch.

"Lasst uns auf den Frieden trinken!"

Lisa Weeda hofft, dass der Krieg bald ein Ende hat, doch sie sagt auch: "Seit 20 Jahren wird in Russland Gehirnwäsche betrieben, und die junge Genration glaubt wirklich, die Ukraine sei ein Teil von Russland. Und in der komplett zerstörten Ukraine wächst eine Generation voller Hass gegen ihren Nachbarn heran. Wer hier lebt, muss eine hohen Preis zahlen. Die Wunden dieses Krieges werden sich frühestens in einem halben Jahrhundert schließen."

Lisa Weeda lächelt auf einem schwarz-weiß-Foto.
Lisa Weeda ist durch und durch Niederländerin, sagt sie - doch ihr Herz schlägt auch für die Ukraine Bild: Geert Snoeijer

Es gibt eine Szene im Buch, in der der niederländische Teil der Familie die Verwandtschaft in Odessa besucht. "Wir wollen, dass ihr trotz der fragilen Situation hier die Liebe zu unserem Land spüren werdet. So wie wir", begrüßt der Onkel die Gäste. "Russisch, Ukrainisch, wir stecken irgendwo dazwischen mit unseren Vorfahren." Und dann werden die Wodkagläser erhoben: "Lasst uns auf den Frieden trinken!" Es müssen wohl noch viele Gläser geleert werden, bis in Aleksandras Heimat endlich wieder Frieden herrscht.

Der Roman "Aleksanda" von Lisa Weeda erschien am 24. Februar 2023 zum Jahrestag des Angriffskriegs auf die Ukraine erstmals in deutscher Sprache.

Suzanne Cords Weltenbummlerin mit einem Herz für die Kultur