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Wird Sex überbewertet?

17. September 2019

Sex ist in unserer Welt allgegenwärtig. Dabei spielt die eigene Sexualität für viele Menschen gar nicht jene große Rolle, die Werbung, Medien oder die Pornoindustrie glauben machen wollen.

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Nachdenkliches Paar im Bett
Bild: picture-alliance

Die Werbung spielt mit der Lust. Filme, Serien, Medien thematisieren die Sexualität alltäglich in all ihren Facetten und das Internet kennt in Sachen Sex gar keine Grenzen mehr.

Angesichts dieser Sexualisierung des Alltags liegt die Vermutung nahe, dass die meisten Erwachsenen ständig Sex haben. Doch der Schein trügt: Laut "Freizeit-Monitor 2019" haben nur 52 Prozent der Bundesbürger wenigstens einmal pro Monat Sex. Fünf Jahre zuvor waren es noch 56 Prozent.

Über die Verlässlichkeit der diversen Befragungen lässt sich streiten, weil Männer öfter übertreiben und prahlen, während Frauen eher weniger erzählten als sie wirklich erleben, so die Münchner Sexual- und Paartherapeutin Heike Melzer.

Trotzdem sei der allgemeine Trend, weniger Sex zu haben, nicht nur ein deutsches Phänomen. Immer weniger Erwachsene leben in einer festen Partnerschaft, immer weniger haben nach eigenen Angaben regelmäßig Sex, für immer mehr spielt Sexualität nicht die große Rolle, die Werbung, Filme oder Medien dem Thema einräumen.

Viele Gründe für die Enthaltsamkeit

Nach Ansicht von Professor Dr. Ulrich Reinhardt, dem Wissenschaftlicher Leiter der "Stiftung für Zukunftsfragen" gibt es zahlreiche Gründe für die abnehmende Sexualität. Zum einem gibt es demografische Gründe, denn allmählich überaltere die deutsche Gesellschaft und mit zunehmendem Alter nehme eben auch die Sexualität gewöhnlich ab. Das wachsende Selbstbewusstsein vieler Frauen und der Wunsch nach Selbstbestimmung spiele ebenfalls eine große Rolle.

Vor allem aber sei das veränderte Freizeitverhalten verantwortlich. Was die Bürger mit ihrer freien Zeit anfangen, ist im "Freizeit-Monitor" zusammengefasst, der regelmäßig von der Stiftung für Zukunftsfragen erhoben wird. Dahinter steht das Tabakunternehmen British American Tobacco. Für die repräsentative Studie wurden im Juni und Juli mehr als 2200 Menschen ab 14 Jahren zu ihrem Freizeitverhalten befragt.

Viele Menschen wollen ihre freie Zeit optimal nutzen, sagt Ulrich Reinhardt gegenüber der DW. Sie wechseln von einer in die nächste Aktivität, üben zahlreiche Aktivitäten parallel aus und wollen überall dabei sein aus lauter Angst, etwas zu verpassen, so der wissenschaftliche Leiter der "Stiftung für Zukunftsfragen". Das reichhaltige Freizeitangebot und die Verdichtung des Alltags gehe klar zulasten der Sexualität. Ein Grund sei auch die permanente Smartphone-Nutzung: "Wenn der Partner die ganze Zeit am Telefon ist, ist das nicht gerade eine romantische Stimmung, die da entsteht", so der Zukunftsforscher. 

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Finger am Handydisplay
Intensive Handynutzung kann zum Lustkiller werden Bild: picture-alliance/dpa/Y. Mok

Neben dem "Freizeitstress" ist aber oftmals vor allem der berufliche Stress ein echter Lustkiller, so der Sexualwissenschaftler Heinz-Jürgen Voß von der Hochschule Merseburg: "Kurz nach der Arbeit nach Hause kommen und sexuell funktionieren zu sollen, geht nicht beziehungsweise nur schwer. Für guten Sex und gutes Miteinander sollte man sich Zeit nehmen."

Interessanterweise haben Singles - "anders als es populär gemeinhin erwartet wird" - im Vergleich (27 Prozent wöchentlich, 49 Prozent monatlich) wenig Sex, sagt Voß. Lediglich fünf Prozent des "Sexaufkommens" werde von Singles erbracht. 

Gerade bei den jüngeren und mittleren Altersstufen heißt es zudem: wer nicht ständig online ist, ist schnell raus. So wird in allen Lebenslagen telefoniert, auf jede Nachricht möglichst innerhalb von Minuten geantwortet und per Social Media kommentiert. Diese Rund-um-die-Uhr-Präsenz hat jedoch ihren Preis. "Zunehmend mehr Bürger haben das Gefühl, von der Medienflut überrollt zu werden und wünschen sich, öfters mal abzuschalten - und dieses im doppelten Sinne", erläutert Zukunftsforscher Reinhardt.

Weniger Sex trotz Dating-Apps

Gleichzeitig wirke sich die Sexualisierung des Alltags oder der Medien eher kontraproduktiv aus. Die "Generation Porno" werde heutzutage zwar früher mit Sexualität konfrontiert, gleichzeitig zeigen die empirischen Untersuchungen aber, dass viele Jugendliche dadurch eher später selber sexuell aktiv werden.

Anders als prognostiziert hat die Sexualisierung des Alltags und der Medien auch nicht zu einer sexuellen Verrohung der Jugend geführt. Zwar stehen der sogenannten Generation Y zahlreiche Dating-Apps zur Verfügung, aber dies führt beim überwiegenden Teil mitnichten zu schnellem Sex mit wechselnden Partnern. Ganz im Gegenteil: offenbar verbringen viele Jugendliche so viel Zeit online, dass sie in der analogen Welt weniger Kontakt zu Menschen und dadurch auch weniger Sex haben. 

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Onlinedating
Viele Jugendliche sind so oft online, dass sie in der analogen Welt weniger Kontakt zu Menschen haben Bild: picture alliance/dpa/J. Boerger

Erhellende Einblicke liefert auch die europäische Jugendstudie "Generation What?", an der sich 2016 mehr als eine Million junge Europäer beteiligten, die zum Befragungszeitraum 18 bis 34 Jahre alt waren. Die jeweiligen Werte variieren zwar von Land zu Land, aber im Schnitt gab ein Drittel bis die Hälfte der Befragten an, dass es zuviel um Sex gehe. Je nach Land gehöre Sex für ein Drittel beziehungsweise für die Hälfte der jungen Europäer nicht zwingend zu einem glücklichen Leben. 

Der überwiegende Teil der sogenannte Generation Y oder "Millennials" zeigte auch kein Interesse an gleichgeschlechtlichem Sex, an Partnertausch, an Sex mit einem Unbekannten oder an Sex mit mehreren Personen. 

Damit stehen die Europäer nicht alleine da: Auch in den USA haben empirische Untersuchungen gezeigt, dass Jugendliche immer später erste sexuelle Erfahrungen sammeln. In Japan sollen rund vier von zehn der 18- bis 36-Jährigen noch überhaupt keine sexuellen Erfahrungen gesammelt haben. 

Porno und Selbstinszenierung haben nichts mit der eigene Sexualität zu tun

Vor allem der durch die Sozialen Medien geförderte Hang zur Selbstdarstellung wirke sich sehr negativ auf die Sexualität aus, so Reinhardt. Die Betonung von Äußerlichkeiten ziele sehr auf Vergleichbarkeit ab. Auch hier liege meist ein Optimierungs- oder Leistungsfähigkeitsgedanke zugrunde.

Wer diesen Idealen nicht entspreche, wem diese Selbstinszenierung nicht liege oder wer sich diesem Optimierungsgedanke entziehe, auf dessen Sexualität wirken sich die Sozialen Medien eher negativ aus.

Weltweit schauen sich laut Onlineportal netzsieger.de 43 Prozent aller Internet-User pornografische Seiten an. Nach wie vor drehen sich im Internet rund 25 Prozent aller Suchanfragen um Pornografie, das sind etwa 68 Millionen Anfragen pro Tag. Überraschenderweise findet dieser Pornokonsum zu 70 Prozent an Werktagen zwischen neun Uhr morgens und fünf Uhr am Nachmittag statt – also während der Arbeitszeit.

Dank des anhaltenden Porno-Booms setzt die Online-Pornoindustrie laut netzsieger.de jährlich über fünf Milliarden Dollar um. Die Deutschen sind beim Porno-Konsum übrigens Weltmeister: Mit 12,4 Prozent am weltweiten Traffic von pornografischen Inhalten liegt Deutschland noch vor Spanien, England und den USA. 

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Symbolbild - Bondage japanisch
Männerfantasien der Pornoindustrie haben mit der eigenen Sexualität meist nicht gemeinsam Bild: Imago/Image broker

Allerdings wirkt die in Pornos gezeigte Sexualität beziehungsweise die dort vorherrschenden Sexualpraktiken auf viele Jugendliche, aber auch auf Erwachsene sehr verstörend. Der enorme Pornokonsum sowie unendliche Online-Angebote für unverbindlichen und käuflichen Sex führten dazu, dass sich die triebhafte Seite der Sexualität von verbindlichen Partnerschaften entkoppelt, sagt die Münchner Sexual- und Paartherapeutin Heike Melzer.

Ein fortwährend gleichbleibender Partner hingegen werde mit der Zeit unattraktiv, erläutert die Expertin. Ähnlich sieht es Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch: "Je leichter etwas zu erreichen ist, desto mehr verliert es an Reiz."

Große Diskrepanz zwischen Scheinwelt und Realität

"Leistungsstress durch Pornoindustrie und Social Media", nennt das die Münchner Sexual- und Paartherapeutin Heike Melzer: "Dauererigierte Penisse, multiple Orgasmen, knackige Körper auch dank entsprechender Filter - der von uns wahrgenommene Soll-Wert beim Sex stimmt nur noch selten mit dem tatsächlichen Ist-Wert überein."

Anders als Werbung, Medien und Internet suggerieren, spielt die eigene Sexualität im realen Leben vieler Menschen aber keine zentrale Rolle. "Eigentlich wird das Thema Sex überbewertet", so Zukunftsforscher Reinhardt. Für seinen "Freizeit-Monitor" hatte die Stiftung für Zukunftsfragen in face-to-face-Interviews die gesamte Palette des bundesdeutschen Freizeitverhaltens abgefragt. Berichtet haben die meisten Medien bezeichnenderweise aber vor allem über die zunehmende Lustlosigkeit. "Sex sells", diese Werbeweisheit stimmt eben noch immer. 

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DW Mitarbeiterportrait | Alexander Freund
Alexander Freund Wissenschaftsredakteur mit Fokus auf Archäologie, Geschichte und Gesundheit@AlexxxFreund