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Wirtschaftshistoriker: "Wir sind erst am Anfang der Krise"

Nicolas Martin
27. März 2020

Die Corona-Krise habe Ähnlichkeit mit Kriegsökonomien, sagt der Historiker Albrecht Ritschl im DW-Gespräch. Und sie könne die Ausmaße der Weltwirtschaftskrise erreichen. Deutschland sei dennoch gut gerüstet.

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Wirtschaftskrise Weimarer Republik Schlange vor Berliner Leihamt 1924
Bild: picture-alliance/akg-images

DW: Sie sind Historiker und beschäftigen sich mit Wirtschaftskrisen. In wenigen Worten - was sind die zentralen Merkmale einer Wirtschaftskrise?

Albrecht Ritschl: Nachfragerückgang, Produktionseinbruch, Massenarbeitslosigkeit, Finanzkrise und dann folgt oft noch eine Staatsschuldenkrise.

Das waren wirklich wenige Worte. Wo stehen wir denn in der aktuellen Wirtschaftskrise?

Wir sind erst am Anfang der Krise. Die kann so schlimm werden wie die Weltwirtschaftskrise der frühen dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. Auch ein Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um rund 20 Prozent ist nicht völlig ausgeschlossen. Der Ausblick ist düster und hängt damit zusammen, wie lange die Quarantäne-Maßnahmen andauern.

Die Wirtschaft ist fast komplett eingefroren - fast alle Aktivitäten stehen still. Hat es das schon mal so gegeben?

Jeder Vergleich hinkt. Der zutreffendste ist wohl der Vergleich mit Kriegswirtschaften. Während der Weltkriege wurden überall auch Gaststätten, kleine Läden und Handwerksbetriebe geschlossen. Der Grund dafür war natürlich, dass man Ressourcen freisetzen wollte für die Kriegswirtschaft. Das haben wir so jetzt nicht. Das ist der große Unterschied. Trotzdem kann man auch jetzt schon sagen, dass manche Bereiche ähnlich schrumpfen könnten wie in den Kriegen. Dort ist die Wirtschaft in bestimmten Bereichen bis zu 70 Prozent zurückgegangen.

Wie lange kann so ein wirtschaftlicher Stillstand gut gehen?

Wir rätseln natürlich alle, wann möglicherweise Versorgungsengpässe oder soziale Unruhen auf uns zukommen. Und man sieht ja, dass die Politiker international deshalb in Panik sind. Am deutlichsten sehen wir das beim amerikanischen Präsidenten: Der versucht seine Haut zu retten, indem er verspricht, nach Ostern die Wirtschaft wieder hochzufahren. Niemand weiß, wie er zu diesem Ausblick kommt. Aber es ist oft so, dass politisches Kalkül anders funktioniert als das eines Experten.

Albrecht Ritschl (Archivfoto)
Albrecht Ritschl (Archivfoto) Bild: DW/P. Kouparanis

Hat der Staat wirtschaftspolitisch in solchen Situationen Gestaltungsmacht?

Was wir jetzt international sehen, ist die Ausgabe von Helikoptergeld. Beispielsweise in den USA. Aber auch das Kurzarbeitergeld in Deutschland ist nichts prinzipiell anderes. Auch das kennt man bereits aus den Weltkriegen. Das ist im Grunde der Versuch des finanziellen Feuerlöschens. Es ein reaktives Handeln - aber keine wirkliche Gestaltungsmacht. Die große Unbekannte liegt in den Eindämmungsmaßnahmen und deren Wirkungen. Ist die Rosskur schlimmer als die Krankheit? Das wird gerade heftig diskutiert.

Die Staaten geben derzeit viel Geld aus - man könnte auch sagen, sie drucken es. Ist Inflation zwangsläufig das Ergebnis?

Ob das wirklich so eintritt, weiß man nicht: Die Ökonomen haben das alle für die Zeit nach der Finanzkrise 2008 vorausgesagt. Und wir alle hatten Unrecht, ich selbst auch. Was ich sagen will: Wir wissen es nicht wirklich. Aber auf die Gefahr hin, sich zweimal zum Trottel zu machen: Das Risiko besteht.

Aber wie verändern Krisen die Wirtschaft?

Der Haupteffekt sind industrielle und sektorale Verschiebungen der Arbeitsweise. Das typische Beispiel ist das, was wir jetzt gerade machen: Home-Office. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass ein großer Teil dieser Arbeitsweise so bleibt. Alle großen Kriege, alle großen Krisen haben zu einer Verschiebung der Produktionsweise geführt.

Ein Beispiel?

Erster Weltkrieg: Stärkung der Frauenerwerbstätigkeit, Anerkennung der Gewerkschaften, Anerkennung des Achtstundentages, Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts. Die 1930er Jahre sind der gewaltsame Versuch gewesen, dieses Rad zurückzudrehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg sehen wir dann die Durchsetzung der industriellen Massenproduktion, die aufstrebende Konsumgesellschaft, den massenweisen Zugang zu besserer Ausbildung. Das als Beispiele - alles Veränderungen nach Wirtschaftskrisen.

Gibt es Faktoren, die bei der Erholung einer Krise hilfreich sind?

Die wirkliche Antriebskraft für die Erholung von einer Krise ist die Staatsverschuldung. Wenn ein Land vor dem Eintritt einer Krise eine relativ niedrige Staatsverschuldung hatte - und damit auch fiskalpolitische Handlungsmöglichkeiten -, dann kam man schneller und leichter aus der Krise heraus. Länder, bei denen das nicht der Fall war, hatten typischerweise am Ende einer Krise noch mit ausufernden Staatsschulden zu kämpfen. Südeuropa nach der Finanzkrise von 2008 ist das klassische Beispiel und wird es auch jetzt wieder sein.

Sie würden also sagen, dass Deutschland gut gerüstet ist?

Deutschland hat durch seine umstrittene Politik der Schwarzen Null sozusagen sein Pulver trocken gehalten, um jetzt in ganz großem Maße gegensteuern zu können. Insofern steht Deutschland schon recht gut da. Aber wir haben in Deutschland das Problem, dass wir international stärker verflochten sind als die allermeisten großen Volkswirtschaften. Das heißt, wir sind mehr als die anderen darauf angewiesen, dass es unseren Nachbarn gut geht.

Albrecht Ritschl ist Wirtschaftshistoriker. Seit 2007 unterrichtet er an der London School of Economics.