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Wohlstandskrankheiten nehmen dramatisch zu

23. Oktober 2010

Zivilisationskrankheiten - wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes oder Depressionen - sind für Ärzte und Wissenschaftler die größte medizinische Herausforderung der Zukunft. Überall! Nicht nur in den reichen Ländern.

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Ein Mann beißt in einen Hamburger (Foto: picturealliance)

Im Gesundheitswesen vollzieht sich ein Paradigmenwechsel. Wissenschaftler sprechen von "Epidemiological Transition". Das bedeutet, dass chronische Krankheiten Infektionskrankheiten als häufigste Todesursache ablösen. Mit Ausnahme des subsaharischen Afrikas sterben heute mehr Menschen an Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck oder Fettleibigkeit als an Aids, Malaria oder Tuberkulose. Diese Tendenz steigt rasch an. Wissenschaftler wie Peter Piot von der London School of Hygiene and Tropical Medicine finden das nicht nur besorgniserregend: "Das ist auch zynisch, denn diese Entwicklung war überflüssig. Sie ist die Folge eines ungesunden Lebensstils, der sich von Europa und den USA aus nun auch in andere Regionen der Welt ausgebreitet hat."

Armut verursacht chronische Krankheiten und umgekehrt

Zu salziges, süßes, zu fettiges Essen, zu wenig Bewegung: Chronische Erkrankungen galten lange als Wohlstandskrankheiten, als Zivilisationskrankheiten überalternder westlicher Industrieländer. Doch befördert durch Globalisierung und Urbanisierung ersetzen auch in Afrika industriell gefertigte Lebensmittel die traditionellen Speisen. In den Arabischen Emiraten werden jede Menge zuckerhaltige Softdrinks konsumiert, und die Tabakindustrie streckt angesichts strengerer Rauchergesetze in den USA und der EU ihre Fühler erfolgreich gen Asien aus.

Zu denken, dass chronische Krankheiten und Wohlstand zusammengehören, nennt Pekka Puska, Präsident der World Heart Federation, daher "altmodisch". Das stimme nicht einmal mehr innerhalb der wohlhabenden Länder selbst. "Auch in Europa finden sich die Risikofaktoren besonders in den niedrigeren sozio-ökonomischen Schichten. Sie sind immer stärker mit Armut und sozialem Abstieg verbunden", so Puska.

Insofern verursache Armut chronische Krankheiten. Diese Logik funktioniere aber auch anders herum: "Besonders in den Entwicklungsländern werden Menschen mit chronischen Krankheiten auch Opfer von Armut, weil es keine Sozialdienste oder finanzielle Unterstützung für sie gibt. Dann ist Armut eine Folge der Erkrankung."

Ein Freiwilliger misst mit einem Glucometer den Blutzuckerspiegel eines Mannes (Foto: AP)
Erkrankungen wie Diabetes breiten sich auch in Entwicklungsländern ausBild: AP

80 Prozent aller Menschen, die an chronischen Krankheiten sterben, kommen heute aus Ländern mit niedrigem bis mittlerem Einkommen. Immer mehr Wissenschaftler, Politiker und internationale Organisationen erkennen das als Problem. Doch neben Diabetes und Herz-Kreislauf-Krankheiten gibt es ein weiteres Feld chronischer Erkrankungen, das bislang unterschätzt wird: die psychischen Krankheiten.

Weltweit leiden beispielsweise rund 150 Millionen Menschen an Depressionen. "Psychische Erkrankungen sind die am meisten vernachlässigten Krankheiten überhaupt, die noch dazu in allen Gesellschaften stigmatisiert werden", warnt Peter Piot. Dabei seien sie oftmals die Ursache weiterer Erkrankungen. Einige von ihnen, wie Depressionen oder Schizophrenie, könnten eigentlich behandelt werden. Aber noch sei das Thema einfach nicht hoch genug auf der politischen Agenda, kritisiert Piot.

Chronische Krankheiten sind vermeidbar

Eine übergewichtige Frau versucht, sich eine zu enge Jeans zuzuknöpfen (Foto: Fotolia)
Schlechte Ernährung, zu wenig Bewegung: Übergewicht führt oft zu WohlstandskrankheitenBild: Fotolia/dreambigphotos

Bei Erkrankungen wie Diabetes oder Bluthochdruck könne man sogar präventiv sehr viel tun. "Das sind vermeidbare Krankheiten", betont Ala Alwan, der bei der Weltgesundheitsorganisation für nicht übertragbare und psychische Krankheiten zuständig ist. "Indem sie den Alkohol- und Tabakkonsum reduzieren, gesunde Ernährung etablieren, zu mehr Bewegung anregen, können Sie einen signifikanten Anteil an Herzkrankheiten, Diabetes oder bestimmten Krebsarten vermeiden", versichert Alwan.

Das Schwierige daran sei, dass Präventionsmaßnahmen die Bevölkerung zu einer gesünderen Lebensweise anhalten, es also letztlich um einen individuellen Einstellungs- und Verhaltenswandel gehe. Ein solcher Wandel sei schwer zu erreichen und berühre auch die Frage nach der richtigen Balance zwischen staatlichem Eingreifen einerseits, etwa durch Rauchverbote im öffentlichen Raum, und individueller Freiheit andererseits.

Für Pekka Puska von der World Heart Federation ist das kein Gegensatz: "Es geht um einen gesellschaftlichen Wandlungsprozess. Wir müssen den Menschen durch Aufklärung helfen, gesünder zu leben. Und was wir essen oder wie viel wir uns bewegen, wird durch die Umwelt bedingt." Um erfolgreich gegen chronische Erkrankungen vorzugehen, müssten Kommunen, Staat, Lebensmittelindustrie und andere Akteure zusammenarbeiten.

Peter Piot hat jedoch Zweifel, ob schon genügend Problembewusstsein vorhanden ist, um wirklich aktiv zu werden. Er mahnt zur Eile angesichts der Statistiken, etwa zur Übergewichtigkeit von Jugendlichen in Europa. "Man muss Anreize setzen, zum Beispiel über eine Steuer für ungesundes Essen nachdenken, wie für Tabak oder Alkohol."

Seiner Meinung nach wird das Problem vom falschen Ende her angegangen. Es werde zu viel über die Kosten medizinischer Behandlung gesprochen anstatt in Prävention zu investieren. Solange hier kein Umdenken geschehe, sei die Welt der Herausforderung chronischer Erkrankungen noch nicht gewachsen.

Autor: Anna Corves
Redaktion: Gönna Ketels/Judith Hartl