Der streitbare "Esskritiker"
8. Juli 2016Angeblich aß Wolfram Siebeck erst mit etwa 80 Jahren seine erste Currywurst – und fand sie fürchterlich. Als Hobbykoch, der ich seit meiner Jugend bin, und als langjähriger Leser seiner Zeit-Kolumnen habe ich – zugegeben - ein spezielles Verhältnis zu Wolfram Siebeck. Beindruckt hat mich natürlich seine Radikalität. Denn Siebeck sang das Hohelied des Wahren und Schönen. Er predigte Qualität, und zwar unbarmherzig: Einkaufen auf dem Wochenmarkt, beim guten Metzger, beim besten Käsehändler, beim Erzeuger vor Ort! Das war nicht nur sein Credo, das war sein verbindliches Rezept für, wie er es nannte, Lebensqualität. Aber wer konnte sich das schon leisten? Mein Vater musste seine Brötchen noch hart verdienen, musste fünf Kinder satt kriegen. Gott sei dank gab es da die von Siebeck so verpönten Supermärkte. Aldi, Lidl und Co. erlaubten dann sogar Studenten wie mir mal ein preiswertes Schnitzel oder einen Käse aus Frankreich zu erstehen.
"Die Deutschen geben zu wenig für gutes Essen aus", tadelte der Feind der Mittelmäßigkeit. Austern, Gänseleberpastete, Kalbsbries, Kutteln - solche Dinge sollten auf unseren Tellern landen. Esskultur, wie er sie verstand, war (und ist) aber leider den Betuchten vorbehalten, sogar im reichen Deutschland. Solches Gebahren empfand ich als bourgeois, wenn nicht gar zynisch. Umso verwunderlicher, dass Wolfram Siebeck eine derart große Fangemeinde hatte, die seine Kritiken, Kolumnen, Bücher, Fernsehsendungen und zuletzt auch Internet-Blogs regelrecht verschlang. Seine Kritiken waren umstritten. Viele Leser störten sich an Siebecks manchmal arrogantem Ton. Und auch ich muss zugeben, dass mich sein zur Schau getragener Hedonismus gelegentlich neidisch machte.
Er verfasste gnadenlose Kritiken
Es ging aber auch eine Faszination von diesem Mann aus. Unerschrocken ging Siebeck in Sternerestaurants ein und aus, marschierte in Küchen, lugte in Kochtöpfe. Er verfasste gnadenlose Kritiken und stieß so manchen König der Küche vom Thron. Ebenso wurde er, wenn es ihm denn schmeckte, zum Königsmacher: Den Münchener Eckart Witzigmann etwa schrieb er zum "Jahrhundertkoch" hoch – um ihn Jahre später, wegen eines anderen, wieder fallen zu lassen.
Wolfram Siebecks Leben verlief nicht immer nach Plan. Um 1950 herum, mit etwas über 20, begann er mit dem guten Essen. Eine Reise nach Frankreich hatte ihn auf den Geschmack gebracht. Dabei war er vom heimischen Herd nicht gerade verwöhnt. Seine Mutter und Großmutter hätten "miserabel" gekocht, erzählte er einmal. Auch habe es in den Kriegsjahren "nichts Gescheites" zu essen gegeben.
Vom Grafiker zum food writer
Siebeck, Jahrgang 1928, wuchs in Essen und Bochum auf. Kurz vor Kriegsende geriet er als Flakhelfer in britische Kriegsgefangenschaft. Bald danach besuchte er die Werkkunstschule in Wuppertal und wurde Grafiker. Er arbeitete als Schildermacher, Pressezeichner und Illustrator, bevor er für Zeitungen und Zeitschriften zu schreiben begann. Seine publizistische Heimat wurde die Wochenzeitung "Die Zeit" und die Gourmet-Zeitschrift "Der Feinschmecker".
Siebeck und seine zweite Frau Barbara, Ex-Frau des bekannten Fotografen Will McBride, die drei Kinder in die Ehe brachte, kochten selten zu Hause. Dafür gingen sie gerne essen und reisten um die Welt, um Küche und Köche anderer Länder kennenzulernen. Hartnäckig hält sich die Anekdote mit der ersten Currywurst, in die Siebeck erst als 80-Jähriger gebissen haben soll. "Mein Hunger auf Currywurst ist bis zum Lebensende gestillt", sagte er hinterher. Nun ist er im Alter von 87 Jahren im badischen Mahlberg gestorben. Wolfram Siebeck, der Gnadenlose, Unbestechliche, Anspruchsvolle, er wird mir fehlen.