Wolken über Westminster
16. November 2018Am Freitagnachmittag wich die Luft aus der aufgeregten politischen Blase in Westminster, wo die britische Regierung in London ihren Sitz hat. So als ob einer mit der Nadel hineingepikt hätte. Ein Misstrauensvotum gegen Premierministerin Theresa May hatte sich in der Tory Party nicht materialisiert - entgegen den Ankündigungen vom Morgen.
Haben ihre Feinde von der harten Brexit-Front nun die notwendigen Briefe von 48 Parlamentariern zusammen, die für ein Misstrauensvotum nötig wären, oder nicht? Es wird über das Wochenende über ihr Geheimnis bleiben. Vielleicht platzt diese spezielle Bombe erst am Montag. Auch weitere blieben May erspart, denn Wackelkandidat Umweltminister Michael Gove erklärte vorerst der Regierungschefin seine Loyalität.
Recycling am Nachmittag
Am Nachmittag fand Theresa May sogar ein bisschen Zeit für ein Minister-Recycling. Sie holte ihre Vertraute Amber Rudd zurück ins Kabinett, die im Sommer nach einem Immigrationsskandal hatte abtreten müssen. Aber jetzt ist es an der Zeit, sich mit Freunden zu umgeben, und so wurde Rudd flugs auf den Posten der Arbeitsministerin befördert, der am Donnerstag nach dem Abtritt von Ester McVeigh vakant wurde. Motto: Tausche eine harte Brexit-Anhängerin gegen eine Verbündete.
Und schließlich musste noch ein neuer Brexit-Minister her. Nachdem einer der Initiatoren der Leave-Kampagne nicht zur Verfügung stand: Denn Michael Gove wollte den nun mit den EU-Leuten erreichten Brexit-Deal nicht vertreten und ihn neu verhandeln. Also zog die Premierministerin einen Staatssekretär aus der dritten Reihe aus dem Hut, der keine Führungsambitionen hat und von dem Loyalität zu erwarten ist: Stephen Barclay. Er wird darüber hinaus nur für die interne Abwicklung des Brexits zuständig sein. Die Verhandlungen mit Brüssel macht May jetzt zur Chefinnensache. Nachdem sie sie zwei bereits zwei Brexit-Minister im Streit verloren hat, nimmt sie deren Nachfolger jetzt einfach die Kompetenzen.
Brexiteers weiter auf Kriegspfad
Am Donnerstag hatte der Leitwolf der Brexiteers, der ultra-konservative Abgeordnete Jacob Rees-Mogg, Theresa May den Fehdehandschuh hingeworfen. Er sammele jetzt die 48 Briefe unter seinen Gesinnungsgenossen, so Rees-Moog, um Theresa May wegen ihres "schlechten" Brexit-Deals als Parteichefin das Misstrauen auszusprechen. Am Freitag dann schlug die Stunde der Hinterbänkler, um die Spannung aufrecht zu erhalten, ob und wann die Attacke zustande käme.
Auf "College Green", dem matschigen Rasen vor dem Parlament, wo die Medien bei Krisen wie dieser ihre Zelte aufschlagen, tigerte am Nachmittag der bislang wenig prominente Abgeordnete Mark Francois von einer Fernsehkamera zur nächsten und sprach in jedes Mikrofon, das ihm entgegengestreckt wurde. Es war seine beste Stunde. "Die Brexiteers müssen entscheiden, wo sie stehen. Die Geschichte wird uns richten, wenn wir den Brexit-Deal der Premierministerin nicht aufhalten", erklärte der Abgeordnete, der ansonsten im politischen Halbdunkel lebt.
Francois ist allerdings Mitglied der ERG, der European Research Group. Das ist eine Denkfabrik, um die sich die Verfechter eines harten Brexits gruppieren - von Rees-Mogg bis David Davis. Und als solcher suchte und fand Francois Abnehmer für seine Attacken gegen Theresa May, seinen "Misstrauensbrief" dabei gut sichtbar offen unter dem Arm tragend.
Schon in Chequers - dem Landsitz der Premierministerin, wo die Skizze für den aktuellen Brexit-Deal entstand - hätten sie sich gegen die Pläne der Premierministerin gestellt. Denn May wollte das Land auch künftig zu eng an die EU binden. "Aber niemand hat auf uns gehört", und May sei von einer Prätorianergarde von Europa-freundlichen Beamten umgeben. Das ist seit Monaten die Dolchstoßlegende der Brexiteers. Am Ende sei der Schaden in Gestalt des Brexit-Deals jetzt eingetreten, so Mark Francois, und das Vertrauen in die Premierministerin irreparabel geschädigt.
Beim Brexit geht es nur um die Tories
"Das alles wirkt wie ein Autozusammenstoß in Zeitlupe", so die Interpretation von Gewerkschaftschefin Frances O'Grady in einem BBC-Interview. "Wir sehen wie die Macht aus May herausrinnt". Über das Wochenende hätte die Premierministerin eine kleine Atempause gewonnen, wo sie versuchen könnte, einige der Unzufriedenen noch zu beruhigen und ihnen vielleicht einen Bonbon anzubieten. Auch für die Chefin des Gewerkschaftsverbandes TUC ist der Brexit-Deal ein Unglück - allerdings aufgrund seiner mutmaßlichen Auswirkungen auf Arbeitsplätze und -bedingungen in Großbritannien.
"Wir können den Deal nicht unterstützen, er schütze nicht die Rechte der Arbeitnehmer" beklagt O'Grady, ganz im Gegensatz zu den Versprechen, die May am Donnerstag erneut in ihrer Pressekonferenz gemacht hatte. Aber wie lässt sich die Sache noch aufhalten? Die Gewerkschafterin glaubt, ein zweites Referendum sei die einzige Möglichkeit, wenn das Parlament den Brexit-Vertrag ablehnen würde. "Es muss doch um die Arbeitsplätze gehen, überall im Land machten sich die Leute Sorgen, etwa in der Autoindustrie, über die Folgen des Brexit".
Theresa Mays fundamentales Problem aber sei, dass sich alles "in erster Linie nur um die Partei drehe, das Land kommt an zweiter Stelle". O'Grady ist nicht die Erste, die der Premierministerin diesen Vorwurf macht. Auch wenn May in jedem zweiten Satz behauptet: "Der Brexit-Deal ist im nationalen Interesse". Alte Parteigranden, wie etwa Michael Heseltine, behaupten schon lange, die Tories seien seit Jahrzehnten von der europäischen Krankheit befallen, die jetzt im Brexit zum Ausbruch kommt.
Düsterer Himmel
Unten an der Themse steht Guillermo Howes mit seiner Staffelei. "Es ist ein bedeckter Tag heute", sagt und fügt dem Aquarell noch ein wenig grau hinzu. Es sei Zufall, dass er gerade heute das House of Parliament vom Themse-Ufer aus malt. "Aber da drüben gibt es drinnen bestimmt mehr Wolken als hier draußen", fügt der Teilzeitkünstler hinzu. Er findet den Streit in der Regierung über den Brexit gleichermaßen angsterregend und interessant. Aber wie kann das Land aus der Bredouille kommen und was hält er von einem zweiten Referendum?
"Das wäre schlecht für die Demokratie und das Parlament", sagt Guillermo. "Wenn man eine Entscheidung getroffen hat, muss man dazu stehen. Auch wenn sie dumm war, denn es werden immer 50 Prozent der Leute unglücklich darüber sein". Das Schlimmste, findet er, sei die Unsicherheit. Die sei schlecht für die Wirtschaft und die Stimmung der Briten. "Ich komme aus dem Baskenland, ich weiß wie es ist, wenn ein Volk gespalten ist", fügt Guillermo noch hinzu. Ob ihm jemand von den Touristen hier sein bewölktes Parlament abkauft? Mal sehen.