Worum geht es den Demonstranten im Irak?
4. Oktober 2019Wie haben die Proteste begonnen und was fordern die Demonstranten?
Völlig überraschend kamen die Proteste nicht. Schon in den vergangenen Jahren hatte es immer wieder große Protestwellen gegeben, beispielsweise 2018 im südirakischen Basra, dem Zentrum der irakischen Ölindustrie. Auslöser war damals die Erkrankung Tausender Iraker nach dem Konsum von verdrecktem Trinkwasser. Dieses Mal scheinen die Proteste eher spontan ausgebrochen zu sein. Mit angefacht wurden sie allerdings offenbar durch die Entlassung eines populären Generals. Abdel-Wahab al-Saadi, bislang Vizechef der irakischen Antiterroreinheiten und eine wichtige Figur bei der Bekämpfung des "Islamischen Staats" (IS), wurde auf einen anderen Posten versetzt. Seine Anhänger glauben, er sei geschasst worden, weil er dem Einfluss der Iran nahestehenden schiitischen Milizen in die irakische Armee im Wege stand. Das Konterfei des Generals war in den vergangenen Tagen immer wieder auf Protestplakaten zu sehen - ein Anzeichen dafür, dass die Proteste sich teilweise auch gegen den iranischen Einfluss im Irak richten.
Im Vordergrund steht bisher jedoch soziale Unzufriedenheit. Experten warnen schon länger vor einer Explosion des Unmuts, besonders unter der stark von Arbeitslosigkeit betroffenen Jugend. Daniel Gerlach, Chefredakteur des deutschen Nahost-Fachmagazins "Zenith", sieht folgende Ursachen: mangelnde Stromversorgung, mangelnde öffentliche Dienstleistungen, hohe Arbeitslosigkeit, Armut sowie Korruption. "Die Iraker haben das Gefühl, dass einerseits der Staat überall eingreift, sich entwickelt und viele Leute dabei immer reicher werden, dass aber der Großteil der Bevölkerung daran keinen Anteil hat, sondern es im Gegenteil immer schwerer wird." Dies zeige sich auch mitten in Bagdad in der sogenannten "Grünen Zone", die der Premierminister abschaffen wollte. Dort gebe es bestimmte Bereiche, die nur privilegierte Iraker betreten dürften, obwohl es öffentlicher Raum sei. "Das frustriert die Menschen", so Gerlach. Noch dominieren Forderungen nach einem Ende von Misswirtschaft und Korruption die Proteste. Doch bei weiter zunehmender Gewalt könnte sich die Agenda auch verschieben.
Warum leidet ein ölreiches Land wie der Irak unter Armut und Stromausfällen?
Der Irak gehört zu den weltweit größten Ölproduzenten. Die Wirtschaft des Landes hängt hauptsächlich vom Öl ab - eigentlich ein immer noch profitables Geschäft, wie ein Blick in die benachbarten Golfstaaten zeigt. Dass dennoch viele Iraker unter Armut leiden und im Sommer bei Temperaturen bis zu 50 Grad regelmäßig der Strom ausfällt, erklärt Experte Gerlach vor allem mit Korruption. Auf dem Anti-Korruptions-Index von Transparency International belegt der Irak mit Rang 168 (von insgesamt 180 Ländern) einen der schlechtesten Plätze.„Im Irak sehen wir zudem das Phänomen, dass die Bevölkerung als Bittsteller auftritt und der Staat als Wohltäter", ergänzt Gerlach. Er sieht den ethnisch und konfessionell pluralen Irak als eine defizitäre Demokratie, die unter der Günstlingswirtschaft verschiedener Akteure des komplexen Herrschaftssystems leide. Führende Vertreter der unterschiedlichen politischen, konfessionellen und regionalen Gruppen würden auf die Ressourcen des Landes zugreifen und diese oftmals für sich behalten bzw. unter ihren Anhängern verteilen. Dieses Geld fehlt anderswo schmerzlich - etwa im Gesundheitswesen oder bei anderen öffentlichen Dienstleistungen.
Wie reagieren Politiker und religiöse Würdenträger im Irak auf die Proteste?
Trotz anhaltender Gewalt versucht Ministerpräsident Adel Abdel Mahdi, die Gemüter zu beruhigen. In einer TV-Ansprache in der Nacht zum Freitag (4.10.) erklärte er, die Proteste seien berechtigt und die Regierung um eine Lösung bemüht. Es gebe jedoch "keine Zauberformel", um alle Probleme zu lösen. Zuvor hatte die Regierung jedoch harte Maßnahmen ergriffen, um die Lage in den Griff zu bekommen: In Bagdad sowie den Städten Nasiriya, Amara und Hilla verhängte sie eine Ausgangssperre. Im ganzen Land, außer im kurdischen Teilstaat im Norden, sperrte sie das Internet, um zu verhindern, dass Demonstranten sich über soziale Netzwerke organisieren. Trotzdem kam es in Bagdad und anderswo auch am Freitag erneut zu zahlreichen gewaltsamen Übergriffen, die Anzahl der Todesopfer und Verletzten stieg den ganzen Tag über weiter an. Einen Grund für die ausufernde Gewalt sieht Nahost-Experte Gerlach auch in der mangelnden Schulung der Sicherheitskräfte: „Iraks Sicherheitskräfte sind nicht dafür ausgebildet, mit Massendemonstrationen umzugehen, sondern um gegen bewaffnete Aufständische wie den IS zu kämpfen. Sie sind mit schweren Waffen und Sturmgewehren ausgerüstet."
Der höchste schiitische Würdenträger des Landes, Großayatollah Ali al-Sistani, äußerte sich ebenfalls: Er rief die Politiker zu "ernsthaften Reformen" auf, bevor es zu spät sei und verurteilte sowohl gewalttätige Angriffe auf Demonstranten wie Gewaltaktionen gegen Sicherheitskräfte. Schärfer fiel die Reaktion des einflussreichen schiitischen Geistlichen und Politikers Muktatda al-Sadr aus: Er rief seine Abgeordneten auf, das Parlament zu boykottieren, bis die Regierung ein Programm vorlege, das vom Volk akzeptiert werde.
Spielen auch interkonfessionelle Spannungen und der benachbarte Iran eine Rolle?
Die aktuellen Proteste finden bislang in mehrheitlich schiitischen Städten und Regionen des Irak statt. Sunniten und Kurden spielen bisher keine erkennbare Rolle, ebenso wenig wie interkonfessionelle Auseinandersetzungen. Vieles deutet eher auf einen Konflikt innerhalb der schiitischen Bevölkerungsmehrheit hin, in der es sowohl pro- wie anti-iranische Strömungen gibt. Auf Protestplakaten sind durchaus viele anti-iranische Parolen zu lesen, doch bisher überwiegt der sozial motivierte Protest gegen Armut, Korruption und Misswirtschaft. Unterschiedliche Darstellungen gibt es zu der Frage, ob auch der Iran in die Proteste involviert ist. So gibt es Medienberichte, denen zufolge irakische Sicherheitskräfte, die gewaltsam gegen Demonstranten vorgegangen sind, die iranische Landessprache Farsi gesprochen haben sollen. Beweise gibt es dafür bisher allerdings nicht. Bis zum Beweis des Gegenteils hält auch Nahost-Experte Gerlach eine iranische Beteiligung an der Niederschlagung der Proteste im Irak für "keine glaubwürdige These." Iran hat zwar Einfluss über Teile des Sicherheitsapparats und Angst vor Unruhen in der Nachbarschaft, ist aber wohl nicht für die Koordination der Operationen im Irak verantwortlich.