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"Einige sind weg, die meisten sind geblieben"

Sabine Kieselbach
1. März 2022

Pausenlos warnen Sirenen vor Raketen, die Menschen verschanzen sich in Bunkern. Yevgenia Belorusets, Künstlerin in Kiew und Berlin, erlebt den Krieg hautnah.

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Yevgeniya Belorusets - Fotografin in der ZDF Talkshow maybrit illner 2014
Yevgeniya Belorusets aus KiewBild: M- Stauffenberg/imago images

Yevgenia Belorusets, geboren 1980, ist Fotografin, Künstlerin und Schriftstellerin. Sie lebt abwechselnd in Kiew und Berlin und beschäftigt sich mit den Schnittstellen von Kunst, Medien und Gesellschaft. Seit Dezember 2021 hält sie sich in Kiew auf und hat dort den Beginn des Krieges erlebt. 

Deutsche Welle: Wie geht es Ihnen?

Yevgenia Belorusets: Es geht mir gut. Ich habe vor einer halben Stunde fast geweint, als ich die Nachricht las, dass die belarussische Armee jetzt in die Ukraine einmarschieren will. Ich hatte insgeheim gehofft, dass die Armee diese verbrecherischen Befehle einfach ablehnt, dass sie das einfach nicht tun.

Wo sind Sie gerade?

Ich bin in Kiew in meiner Wohnung.

Können Sie Ihren Alltag beschreiben? Wie erleben Sie den Krieg?

Jeden Tag, mehrmals pro Tag, hört man Sirenen, die uns vor Raketen warnen. Es ist nicht klar, ob die Gefahr wirklich kommt oder vorbeizieht. Aber man muss Schutz suchen. Man muss in die Keller gehen, in die Schutzbunker gehen, tief unter der Erde. Ich bin manchmal leichtsinnig und warte und hoffe, dass es einfach vorbeigeht. Die Straßen sind menschenleer. Vor der Apotheke steht eine Schlange, die Menschen warten fünf, sechs Stunden, um ihre Arzneien zu bekommen, die für sie lebenswichtig sind. Vor kurzem waren wir noch in der Realität einer Pandemie. Sie geht weiter, aber davon ist überhaupt nicht mehr die Rede. Weil es um Verletzte geht, Verwundete, Soldaten und friedliche Menschen. Nur wenige Apotheken sind geöffnet. Nur die Menschen, die Arzneien für verwundete Soldaten brauchen, kommen sofort dran, ohne sich anstellen zu müssen.

Die Menschen haben Angst, sie gehen so wenig wie möglich raus, der Radius ist sehr klein geworden. Gestern habe ich meinen Freund zum Bahnhof begleitet. Ich wohne nicht weit weg, der Fußweg dauert normalerweise ungefähr 25 Minuten. Aber gestern war das richtig gefährlich. Und ich bin alleine wieder zurückgegangen.

Wie kommen Sie an Informationen, wie kommen die Menschen in der Ukraine überhaupt an Informationen? Können Sie sich mit anderen Menschen austauschen?

Ich bin in vielen Telegram-Gruppen und -Kanälen. Ich lese ständig zehn bis 20 unterschiedliche Nachrichtenquellen, meistens unabhängige, staatliche oder geprüfte journalistische Quellen, sichere Quellen. In Kommentaren kann man sich ja auch austauschen. Wir sind aber vorsichtig. Ich bin durch unterschiedliche soziale Netzwerke und über Telefon mit Verwandten, Freunden und Bekannten ständig in Kontakt. Die Kommunikation ist sehr intensiv. Ich versuche auch zu fotografieren, mit dem Smartphone und mit meiner alten Filmkamera.

Sie leben in Kiew und in Berlin. Warum sind Sie gerade in Kiew? Warum bleiben Sie dort?

Ich bin im Dezember nach in Kiew gekommen, um an einem Romanprojekt zu arbeiten, das sich mit Menschenrechten befasst. Außerdem arbeite ich an einem weiteren Buch, da geht es eher um soziale Forschung. Ich muss dafür viel in der Ukraine recherchieren. Ich hatte schon meine Rückkehr nach Berlin geplant, für Anfang März. Aber als der Krieg begann, wollte ich plötzlich nicht mehr wegfahren. Meine Eltern sind hier. Mein Vater ist gerade etwas schwach. Er ist Übersetzer von deutscher Lyrik. Wenn ich das Land verlasse, dann nur mit meinen Eltern. Und mit meinen Freunden. Aber Gott sei Dank sind die meisten meiner Freunde schon nicht mehr hier.

Haben aus Ihrem Umfeld – Familie, Freunde – viele die Ukraine verlassen?

Einige haben die Ukraine schon verlassen, die meisten sind geblieben.

Was hilft Ihnen jetzt? Können Sie arbeiten?

Ich führe ein Tagebuch für den "Spiegel". Das hilft mir. Auf Deutsch, also in einer Fremdsprache zu schreiben, ist eine Herausforderung. Das gibt meinem Dasein in dieser Situation einen Sinn. Ich schreibe. Ich denke nach. Ich fotografiere.

Was fotografieren Sie?

Kleinigkeiten, meine Straßen. Ich suche Bilder für meine Gedanken.

Sie haben schon 2018 in einem Interview die Befürchtung geäußert, dass es einen Krieg gegen die Ukraine geben wird. Warum? Was waren die Anzeichen? Waren Sie allein mit dieser Angst?

Das ist schwer zu sagen. Russland führte heftige Angriffe im Osten der Ukraine, die ganze Region war in Gefahr. Es gab vor Ort nur wenige internationale Journalisten, die berichteten, und auch auf ukrainischer Seite wurde wenig darüber gesprochen, die Menschen hatten offenbar nicht die Kraft dazu. Es ging nie darum, die Identität der Menschen, die Russland nahestehen, in ihrer Lebensweise zu schützen. Genau diese Menschen werden ja angegriffen, das sehen wir ja auch in Charkiw, das jetzt angegriffen wurde. Das ist eine russischsprachige Stadt mit einer besonderen Geschichte und modernistischer Architektur und jetzt steht sie einfach unter Raketenfeuer. Da ist keine Militärinfrastruktur, da leben Zivilisten, die jetzt mit Raketen angegriffen werden. Das alles begann schon 2014, im Donbass. Ich habe den Donbass besucht - vielleicht kam daher diese Angst.

Haben die Menschen in der Ukraine das nicht wahrhaben wollen?

Russland hat mit seiner Desinformationskampagne erreicht, dass auch einige Ukrainer begonnen haben zu glauben, dass der Osten der Ukraine wirklich prorussisch war, dass man dort Russland eingeladen habe, Krieg zu führen. Aber zum Krieg lädt man nie ein. Diejenigen Ukrainer, die das glaubten, glaubten auch, der Osten der Ukraine sei freiwillig russisch besetzt. Aber Menschen sterben seit Jahren in diesem Krieg, jeden Tag.

Putin rechtfertigt seinen Angriff auf die Ukraine mit dem Vorwurf, die Machthaber in der Ukraine seien Faschisten. Eine Propaganda, die auch im Westen kursiert. Sie waren immer eine Kritikerin der politischen Verhältnisse in der Ukraine, wie erleben Sie das?

Die Ukraine war nie ein faschistisches Land, sie war auch nie ein menschenfeindliches Land. Nationalistische Parteien waren hier nie wirklich populär, ihr Anteil im Parlament liegt bei unter drei Prozent. Meine Sicht auf das Land war immer kritisch - und wird es auch immer bleiben. In diesem Moment ist es aber sehr schwer, kritisch zu bleiben. Ich bin schockiert, und ich bin verliebt in mein Land, weil ich sehe, dass die Menschen einander wirklich schützen und beieinander stehen, dass die Menschen versuchen, gerade dieser unsäglichen, unmenschlichen Gewalt etwas Menschliches entgegenzusetzen. Wenn irgendwelche Lebensmittel fehlen, man gibt sie einander. Mein Nachbar ist ein Arzt, der in Kiew geblieben ist, um im Schutzbunker seinen Dienst zu verrichten - obwohl er die Beschüsse kaum aushält. Er begibt sich in Gefahr, um zu helfen. Meine Aufgabe ist jetzt, das zu erzählen, was mit uns passiert.

Wie oft am Tag gibt es Sirenenalarm?

Heute um 2:30 in der Nacht, dann wieder um 7 Uhr morgens, dann um neun. Bis heute Nachmittag schon mehrmals, drei oder viermal. Und jedes Mal in den Schutzbunker zu gehen und zu warten, bis der Luftalarm aufhört, ist sehr schwer.

Haben sich Freunde aus Russland bei Ihnen gemeldet?

Viele melden sich und sagen, es tue ihnen leid. Sie sind angespannt, sie finden das schrecklich, sie sagen: "Schande für Russland!"

Wie geht es jetzt für Sie weiter? Was können Sie tun?

Ich will weiterschreiben, weitererzählen. Und tun, was ich tun kann, hier und jetzt. Wirklich planen kann ich in dieser Situation nichts.

Was können wir, was kann der Rest der Welt jetzt tun, was würden Sie sich wünschen?

Auch im Kunstbetrieb müssen jetzt alle Position beziehen. Jede Unterstützung, jede Hilfe ist gerade jetzt wichtig. Es werden Menschen ermordet, einfach so auf den Straßen und man muss alles tun, damit das aufhört. Ich wünsche mir Sanktionen, die die russische Wirtschaft vernichten. Ich wünsche mir militärische Unterstützung der Ukraine auf allen Ebenen. Wir müssen uns schützen können. Ich hoffe, dass die Wahrheit am Ende siegt.

Das Interview führte Sabine Kieselbach.