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Im Dschungel von Calais

Barbara Wesel 15. Juni 2015

Sie träumen von einem Leben in Großbritannien. Barbara Wesel traf Flüchtlinge aus dem Sudan, Syrien, Eritrea, Irak und Afghanistan, die sich in der Hafenstadt Calais sammeln, um von dort den Ärmelkanal zu überqueren.

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Flüchtlingscamp Calais Flüchtling aus dem Sudan
Bild: DW/L. Scholtyssek

Stau gibt es meistens mittwochs und donnerstags, dann sind besonders viele Laster unterwegs und bleiben auf den Zufahrten in Richtung Fährhafen stecken. Unten im "Dschungel", wie die Bewohner das Lager in einem Dünengebiet gleich unterhalb der Autobahn nennen, rennen die ersten los. Younis läuft mit rund hundert anderen die Böschung hoch: Sie springen über die Leitplanken und verteilen sich in kleinen Grüppchen hinter den Anhängern. Er zerrt die Hebel auf und springt in einen polnischen Laster, kommt aber schnell wieder raus: "Das ist nichts, nur Kühlschränke!", ruft er. Zwischen den großen Kisten kann man sich schlecht verstecken. Wie gut ist die Chance wegzukommen? "Vielleicht 80 Prozent", glaubt Younis. Aber die meisten schafften es nachts, in der Dunkelheit sei es leichter.

Überall versuchen Flüchtlinge die Türen zu öffnen und sich in der Ladung zu verstecken. Alles muss schnell gehen, denn ein paar Minuten später schon kommen mit heulenden Sirenen die Mannschaftwagen der Polizei. Sie fahren auf der Standspur bis zum Kopf des Staus, heraus springen Schlagstock-bewehrte Einsatzkräfte. Wer jetzt schon im Laster sitzt, Türen wieder geschlossen, ist ziemlich sicher. Alles zu kontrollieren würde zu lange dauern. Weiter hinten in der Schlange aber zerren Polizisten eine Handvoll Sudanesen aus einem litauischen LKW. Younis ist längst zurück über die Leitplanken in Richtung Lager gesprintet, sein Landsmann Tahir läuft hinterher: "Die Polizei ist gewalttätig, sie hindert uns, in die Laster zu kommen", erzählt er. "Sie sprühen Tränengas in die Wagen, viele von uns haben Verletzungen von den Schlagstöcken. Das ist doch nicht menschlich, Europa sollte menschlich sein."

Flüchtlingscamp Calais
An der Autobahn zu den Fähren nach DoverBild: DW/L. Scholtyssek

Der Weg führt über Libyen, Ziel ist der Norden Europas

Schon ungefähr 30 Mal, erzählt Younis, habe er versucht mit einem Laster weg zukommen. Aber es hat nie geklappt. Der 26jährige stammt aus dem Norden des Sudan und gehört zum Stamm der Nubier. Sie werden seit Jahrzehnten von den Herrschern in der Haupstadt Khartum diskriminiert und verfolgt. Er ist eigentlich Lehrer, muß sich aber als Hilfsarbeiter durchschlagen. Er und sein Freund Khalid haben sich auf der Flucht aus dem Sudan nach Libyen getroffen. Auch Khalid war Lehrer und wird im Dschungel von den Bewohnern respektvoll "Teacher" genannt, weil er englisch spricht und und eine Art Dorfältester ist. Von Schleppern wurden beide auf einem Lastwagen durch die Wüste vom Sudan nach Libyen gefahren. Es gab zu wenig Wasser, wer protestierte wurde verprügelt, es gab Tote. Schließlich landeten alle in einem Camp, raus kam nur, wer noch etwas Geld hatte.

Eineinhalb Jahre überlebten beide dann als illegale Arbeiter in Libyen. Aber Khalid erzählt, dass die Situation dort in letzter Zeit immer schlimmer geworden sei. Überall seien Waffen, "man wird auf der Straße überfallen und ausgeraubt". Er selbst wurde von einem Arbeitgeber verprügelt, Younis von der Polizei verhaftet. Es war Zeit, die Flucht fort zu setzen.

Mit dem Fischerboot nach Italien

In der Hafenstadt Suara zahlte Younis 2000 Euro an einen Schlepper und wurde nachts mit rund 350 anderen in ein Fischerboot verfrachtet. Nach ein paar Stunden kreiste das Boot immer noch in der Nähe der libyschen Küste. Steuermann war ein 18-jähriger, der noch nie ein Schiff gesteuert hatte. Am Ende hätten sie ihren Schlepper mit dem Handy erreicht, erzählt Younis, der sei mit dem Schnellboot gekommen und hätte das kleine Schiff in internationale Gewässer gelotst. Denn wenn die Flüchtlinge ertrinken, "ist das schlecht für seinen Ruf".

Schließlich konnte die Gruppe einen Notruf an die Italiener absetzen, wurde aus dem Meer gefischt und nach Sizilien gebracht, wie schon rund 50.000 weitere Flüchtlinge in diesem Jahr. Nur wenige Tage später setzten die Behörden Younis in einen Bus nach Mailand. Mit dem Zug schaffte er es schließlich bis nach Calais, in der Toilette versteckt. Der ganze Weg durch Europa dauerte nur etwa zwölf Tage.

Das Leben im Dschungel ist hart

"Es geht mir nur darum, einen Platz zum Leben zu finden. Auf jeden Fall will ich meine Familie nachholen. Ich vermisse sie so sehr! Ich will meinem Sohn ein Fahrrad kaufen, meine Tochter und meine Frau umarmen". Er habe die Flucht durch die Sahara ausgehalten, die Fahrt über das Meer überlebt und großes Glück gehabt, dass er nicht ertrunken sei. "Aber das noch größere Glück wäre, mit meiner Familie vereint zu sein. Bloß ich weiß nicht, wie es jetzt weiter gehen soll hier in Calais".

Flüchtlingscamp Calais
Younis und sein Freund KhalidBild: DW/L. Scholtyssek

Jeden Nachmittag muss er sich für zwei Stunden im Lager in die endlose Schlange zur Essenausgabe anstellen. Das ist tägliches Ritual für die rund 3000 Flüchtlinge im Dschungel. Die französische Regierung bezahlt die Lebensmittel, eine NGO betreibt die Küche. Hier ist auch Platz für rund 50 Frauen und Kinder, die als einzige ein Dach über dem Kopf haben. Die Männer müssen nach dem Essen wieder hinaus in ihre improvisierte Stadt aus Plastikplanen, Wanderzelten und Holzhütten. Hilfsorganisationen stellen das Material zur Verfügung, bauen muss jeder selbst. Zwischen den Behausungen türmt sich der Abfall: "Wir sind aus der Hölle der arabischen Welt in den Schmutz Europas gekommen", sagt Younis.

Auch hier gibt es übrigens Hierarchien: Die Afghanen, kriegsgestählt und abgehärtet, sind die stillen Herrscher des Lagers. Sie betreiben auch ein paar kleine "Dorfläden", wo die Flüchtlinge Tütensuppen, Dosenfisch und Cola kaufen können. Und immer wieder kommt es zu Schlägereien zwischen ihnen, Sudanesen und Eritreern. Vor zwei Wochen wurden nachts Zelte in Brand gesteckt, die Polizei musste anrücken. Meist bleiben die Nationalitäten hier zusammen, besonders die Syrer haben ihre Zelte weit abseits aufgebaut. Sie wollen so schnell wie möglich nach London, die meisten haben dort Verwandte. Auf die Frage nach seiner Geschichte steigen einem jungen Mann die Tränen in die Augen: "Ich komme aus Aleppo, Aleppo gibt es nicht mehr".

Weiterflüchten oder Bleiben?

Ein paar Tage später macht Younis einen neuen Plan. Sein Freund "Teacher" hatte als erster bei den französischen Behörden Asyl beantragt, und bekam eine Unterkunft in einer mittelfranzösischen Kleinstadt. Er kann den Dschungel verlassen. Innenminister Cazeneuve hatte im Mai den Flüchtlingen geraten, doch lieber in Frankreich Asyl zu beantragen, als den unsicheren Weg nach England anzutreten. Dort stehen sogar für Kriegsflüchtlinge aus Syrien die Chancen schlecht. Für die britische Regierung heißt die Antwort auf die Flüchtlingskrise in Europa: Wir nehmen niemanden, behaltet sie! Für Tausende, die den Weg über Calais schaffen, bedeutet das ein Leben in der Illegalität oder im Abschiebegefängnis. Younis will nun auch lieber einen Asylantrag in Frankreich stellen. Und wenn das nicht klappt? Daran mag er jetzt noch nicht einmal denken.

Flüchtlingscamp Calais
Dorfladen im CampBild: DW/L. Scholtyssek