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Politik

Terrorbekämpfer unter Terrorverdacht

Esther Felden | Matthias von Hein
5. Januar 2020

Ist die YPG Freund oder Feind? Auch Deutsche haben in Syrien mit der kurdischen YPG-Miliz gegen den selbsternannten Islamischen Staat gekämpft. Nach der Rückkehr erwartet viele ein Verfahren – wegen Terrorverdachts.

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Kämpfer der SDF mit YPG-Aufnäher am Ärmel beim Angriff auf IS Stellungen in Baghouz
Bild: Getty Images/AFP/G. Cacace

Jan-Lukas Kuhley verlor jedes Zeitgefühl. Was er noch weiß: Es war Freitag, der 4. Oktober 2019 gegen neun Uhr morgens, als es an seiner Tür klingelte. Davor stand ein halbes Dutzend Polizeibeamte mit einem Durchsuchungsbefehl, ausgestellt vom Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Dem obersten Gericht Deutschlands, wenn es um Strafrecht und Zivilrecht geht. Wie lange die Ermittler in seiner Studenten-Wohngemeinschaft alles durchforsteten, kann er nicht mehr sagen.

Zeitgleich bekamen die Eltern von Jan-Lukas Kuhley Besuch von der Polizei. Durchsucht wurde auch eine weitere Wohngemeinschaft, aus der er kurz zuvor ausgezogen war. Grund für die groß angelegte Aktion: Verdacht auf Verstoß gegen Paragraf 129b, Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung.

Der schmale Student hatte sich 2017 als Freiwilliger den kurdischen Selbstverteidigungseinheiten YPG in Syrien angeschlossen. Er war mehrere Monate aktiv am Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat beteiligt - in einer Einheit, die mit Geschützen und gepanzerten Fahrzeugen operierte. Manchmal sei die Situation lebensbedrohlich gewesen, berichtet er der DW.

Jan-Lukas Kuhley
"Ich fühle mich nicht als Terrorist. Ich habe gegen Terroristen gekämpft", sagt Jan-Lukas KuhleyBild: DW/M. von Hein

Terrorismusbekämpfung für Deutschland?

Als die Beamten Kuhleys Wohnung verließen, hatten sie mehrere Handys, seinen Laptop und verschiedene Datenträger beschlagnahmt. Komplett überrascht habe ihn die Wohnungsdurchsuchung nicht, sagt der Politikstudent bei einer Tasse Tee in seiner Küche. Er kenne andere YPG-Rückkehrer, denen es ähnlich ergangen sei.

Nachvollziehen kann er die Ermittlungen wegen Terrorverdachts aber nicht. "Die YPG hat die Hauptlast im Kampf gegen den IS getragen", betont Kuhley. Sie habe Unterstützung durch die internationale Koalition gegen den Islamischen Staat erhalten, "in der auch die Bundeswehr aktiv ist. Wir haben auch im Interesse Deutschlands Terrorismusbekämpfung gemacht."

Für die deutschen Behörden spielt Kuhleys Motivation keine Rolle. Für sie zählt: Er hat bei einer ausländischen Miliz eine militärische Ausbildung bekommen und Kampferfahrung gesammelt. Nach eigener Aussage unterscheidet die Bundesregierung nicht "zwischen vermeintlich guten und bösen Terroristen".

So steht es jedenfalls in der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage von Bundestagsabgeordneten der Linkspartei aus dem Jahr 2015. Ihre Abgeordnete Ulla Jelpke bezeichnet die Überwachung und Ausspähung von Rückkehrern und ihren Familien wie im Fall Kuhley gegenüber der DW als "Sippenhaft".

In der Praxis gibt es sehr wohl eine Unterscheidung zwischen IS- und YPG-Rückkehrern: Aus dem Terrorkalifat sind nach Kenntnis der Sicherheitsorgane bis Mitte Oktober 2019 122 Menschen nach Deutschland zurückgekehrt. Gegen 23 davon hat die Bundesanwaltschaft Anklage erhoben wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung.

Die Zahl der YPG-Rückkehrer schätzen die Behörden auf gut 100. Zwar wurden etwa 30 Ermittlungsverfahren eingeleitet, aber angeklagt wurde bis heute kein einziger YPG-Anhänger. Das Bundesjustizministerium bestätigt der Deutschen Welle schriftlich: "Nach aktueller Praxis der Bundesanwaltschaft erfolgt grundsätzlich eine Einstellung des Ermittlungsverfahrens".

Die Staatsanwaltschaft kann von der Verfolgung mutmaßlicher Straftaten absehen, wenn sie im Ausland begangen wurden. Dass sie im Fall der deutschen YPG-Kämpfer ermittelt ohne anzuklagen, scheint politische Gründe zu haben.

Wichtigste Verbündete gegen den IS

Wie die DW aus informierten Juristenkreisen erfahren hat, spielt dabei durchaus eine Rolle, dass der militärische Sieg über das Terrorkalifat des Islamischen Staates zu einem großen Teil der YPG zu verdanken ist. Die YPG hat nach eigenen Angaben mit mehr als 10.000 Gefallenen einen hohen Blutzoll gezahlt.

Mitglieder der Kurdischen Volksverteidigungseinheiten vor untergehender Sonne
Ohne die YPG wäre der militärische Sieg über den IS nicht möglich gewesenBild: picture-alliance/dpa/S. Suna

Ihre Kämpfer bilden bis heute das Rückgrat der 2015 gegründeten "Syrischen Demokratischen Kräfte", SDF. Diese wurden mit Hilfe der USA ausgebildet und bewaffnet. Auf syrischem Boden sind sie der wichtigste Partner der US-Amerikaner im Kampf gegen den IS.  

Ganz anders die Sicht des NATO-Partners Türkei: Für die türkische Regierung ist die Kurdenmiliz YPG der syrische Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. Jahrzehntelang hatte die PKK in der Türkei für einen eigenständigen Kurdenstaat gekämpft, auch mit terroristischen Mitteln. Auf beiden Seiten starben in diesem Konflikt zehntausende Menschen. Er ist bis heute nicht ausgestanden.

In Deutschland ist die sozialistisch geprägte PKK seit 1993 verboten, auf der EU-Terrorliste steht sie seit 2002. Auch in den USA ist sie verboten. Ganz anders die YPG: sie ist weder in Deutschland noch in anderen Ländern Europas illegal. Auch die Vereinten Nationen stufen die Miliz nicht als Terrorgruppe ein.

Ermittlungen wegen ideologischer Nähe 

Für die deutsche Justiz entsteht dennoch ein Dilemma: Denn ideologisch bezieht sich die YPG auf den inhaftierten PKK-Gründer Öcalan. Auf den Friedhöfen ihrer gefallenen Kämpfer flattert sein Konterfei auf Fahnen im Wind.

Im Gebiet Rojava in Nordsyrien versucht die YPG, Öcalans Vision eines Staates umzusetzen. Dieses Modell einer von unten organisierten Gesellschaft macht das nordsyrische Kurdengebiet zu einem Sehnsuchtsort für linke Idealisten aus aller Welt. So wie für Jan-Lukas Kuhley.

Abdullah Ocalan
Kurdische Milizen tragen eine Fahne mit PKK-Gründer Öcalan Bild: Picture alliance/NurPhoto/D. Cupolo

In Deutschland hat die zuständige Bundesanwaltschaft in Karlsruhe bisher vor allem dann gegen zurückgekehrte YPG-Kämpfer ermittelt, wenn sie sich öffentlich und nachdrücklich zu ihrer Mitgliedschaft in der Miliz bekannt haben. Das war auch bei Jan-Lukas Kuhley so: Der Durchsuchungsbeschluss des Bundesgerichtshofs, den die DW einsehen konnte, verweist ausdrücklich auf einen DW-Artikel über Kuhleys Zeit bei der YPG.

Zur Aufklärung verpflichtet

Wenn die Behörden von einer möglichen Straftat erfahren, müssen sie ein Ermittlungsverfahren einleiten. So sieht es das deutsche Recht vor. In der Sprache der Juristen nennt sich das "Legalitätsprinzip". Im Fall der YPG wertet die Staatsanwaltschaft die Mitgliedschaft in der Miliz als indirekte Mitgliedschaft in der verbotenen PKK.

Die Vorsitzende des Innenausschusses des Deutschen Bundestags, Andrea Lindholz, betont im Gespräch mit der DW, der "wehrhafte Rechtsstaat zeichnet sich dadurch aus, dass er jeden Einzelfall separat betrachtet und nicht pauschal entscheidet". Lindholz gehört der Unionsfraktion von Bundeskanzlerin Angela Merkel an.

Frauen aus einer YPJ-Einheit mit Gewehr auf dem Boden liegend während der Kämpfe um Rakka im August 2017
Innerhalb der kurdischen YPG gibt es auch kämpfende Fraueneinheiten (YPJ)Bild: picture-alliance/dpa/M. Umnaber

Zwar sei die YPG nicht als Terrororganisation eingestuft, sagt Lindholz. Die PKK betrachtet die CSU-Politikerin aber als die "schlagkräftigste ausländerextremistische Organisation in Deutschland". Die Bundesregierung selber geht nicht von bewaffneten Angriffen durch PKK-Kämpfer in Deutschland oder gegen deutsche Ziele aus. Auch das steht in der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage mehrerer linker Bundestagsabgeordneter aus dem Jahr 2015.

Keiner der YPG-Rückkehrer wird derzeit als Gefährder eingestuft, bestätigen das Bundesinnenministerium und das Bundeskriminalamt der DW auf Nachfrage. Bei den IS-Rückkehrern ist es dagegen knapp die Hälfte: 53 der 122 bekannten IS-Rückkehrer gelten offiziell als Gefährder, antwortete die Bundesregierung Mitte November 2019 auf eine parlamentarische Anfrage der Linkspartei im Bundestag.

Ein heikler Balanceakt

Omid Nouripour, außenpolitischer Sprecher der grünen Bundestagsfraktion, warnt davor, die kurdischen Selbstverteidigungseinheiten zu verklären. Er verweist auf Vorwürfe von Menschenrechtsorganisationen, dass die YPG auch Kindersoldaten rekrutiere.

Unabhängig davon betont auch Nouripour, dass die Kurden "die Drecksarbeit für den Westen gegen den IS gemacht haben". Deshalb müsse sich die Bundesregierung entscheiden, "ob diese Leute nun für uns gekämpft haben oder gegen uns".

Doch bei der Entscheidung spielen auch außenpolitische Erwägungen eine große Rolle. Anfang Dezember forderte der türkische Präsident Recep Tayib Erdogan beim NATO-Jubiläumsgipfel in London seine Partner zum wiederholten Mal dazu auf, die YPG als Terrororganisation einzustufen.

Die Bundesrepublik sitzt zwischen den Stühlen. Die Beziehungen zur Türkei sind sehr eng: Sie ist nicht nur ein Nato-Verbündeter, sondern auch ein sehr wichtiger Wirtschaftspartner. Ohne den Flüchtlingspakt mit der Türkei wäre die Zahl der in Deutschland ankommenden Flüchtlinge kaum gesunken. Und: In Deutschland leben rund drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln.

Für den Grünen-Abgeordneten Nouripour ist klar: "Die Bundesregierung versucht eine Balance zu finden zwischen der YPG auf der einen Seite und den Wünschen der Türkei auf der anderen. Das kann nicht gelingen." Die Folgen dieses juristischen und politischen Dilemmas bekommen Menschen wie Jan-Lukas Kuhley zu spüren - auch wenn das Ermittlungsverfahren gegen ihn vermutlich genauso eingestellt wird wie gegen die anderen YPG-Rückkehrer.

Matthias von Hein
Matthias von Hein Autor mit Fokus auf Hintergrundrecherchen zu Krisen, Konflikten und Geostrategie.@matvhein