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GesellschaftGlobal

Zehn Fakes und Falschmeldungen des Jahres

31. Dezember 2022

"Lebende Leichen" im ukrainischen Butscha, Putin-Tattoos in einem Hospiz, Hitler auf dem "Vogue"-Cover, "gekaufte" WM-Fans in Katar - die krassesten Falschbehauptungen von 2022 im Rückblick des DW-Faktencheckteams.

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Bildkombo Faktencheck | Fakes des Jahres 2022
Bild: Ronaldo Schemidt/AFP/Twitter/ivan_8848/M. Naoki/ATP/picture alliance

Nach der russischen Invasion in die Ukraine am 24. Februar entfaltete sich auch der Informationskrieg darum - mit großangelegten Desinformationskampagnen und gezielter Propaganda und Verschwörungstheorien vor allem in den sozialen Netzwerken. Außerdem identifizierte das Team von NewsGuard, das sich seit Jahren im Kampf gegen Desinformation engagiert, 311 Webseiten, die prorussische Desinformation veröffentlichen, um Russlands Angriffskrieg zu rechtfertigen. Kein Wunder also, dass auch das DW-Faktencheckteam sich im Jahr 2022 größtenteils mit den Falschmeldungen über den Krieg in der Ukraine beschäftigte. Doch auch in Themenbereichen wie Gesundheit, Sport und Umwelt gab es Kurioses, dem wir auf den Grund gegangen sind.

Nein, es gab keine "lebenden Leichen" in Butscha 

Die Bilder von getöteten Zivilisten in Butscha, einer Stadt nahe Kiew, sorgten Anfang April weltweit für Entsetzen. Hunderte von Leichen lagen auf den Straßen, nachdem russische Soldaten die Stadt Ende März verließen. Die ukrainische Seite sprach von einem "absichtlichen Massaker" durch russische Soldaten. Und Russland konterte mit einem ungeheuren Vorwurf: Die Videos aus Butscha seien eine "inszenierte Produktion und Provokation". In den sozialen Netzwerken verbreitete sich blitzschnell das dazu passende Narrativ, die Leichen seien nur Darsteller, die sich sogar bewegen, wie ein Video belegen sollte.

Screenshot Twitter | angebliches Fake-Video in Ukraine Butscha
Ein virales Video aus Butscha: Eine optische Täuschung durch den Regentropfen führte zu Spekulationen über eine angebliche Handbewegung

Doch eine DW-Bildanalyse des Videos mit einer angeblich "lebenden Leiche" in einer höheren Auflösung zeigte: Der Eindruck der Handbewegung entsteht lediglich durch einen Wassertropfen auf der Frontscheibe des Wagens, vom dem aus die Straße in Butscha gefilmt wurde.

Auch unabhängige Digital-Forensiker konnten dies bestätigen. Eine Recherche der New York Times bewies zudem: Auf Satellitenbildern des US-Unternehmens Maxar ist zu erkennen, dass die Leichen schon seit dem 19. März, in einigen Fällen sogar seit dem 11. März auf der Yablunska Straße in Butscha lagen. Diese Aufnahmen sprechen klar gegen die russische Darstellung, wonach die Leichen erst nach dem Abzug der russischen Truppen am 30. März aufgetaucht seien. Das Negieren mutmaßlicher eigener Kriegsverbrechen und Bezeichnen von Beweisen als Fakes ist zu einer bewährten Strategie Russlands im Krieg geworden.

Nein, der "Geist von Kiew" war kein Ausnahme-Kampfpilot

Nachdem die Ukrainer ihren ersten Schock von der russischen Invasion überwunden hatten, suchten viele Trost in den Meldungen über die Militärerfolge der ukrainischen Streitkräfte. Besonders beliebt waren die Geschichten über den sogenannten "Geist von Kiew" - einen Kampfpiloten, der angeblich im Alleingang um die 40 russische Flugzeuge vernichten konnte und dessen Identität geheim blieb. Viele Nutzer und sogar der ukrainische Ex-Präsident Petro Poroschenko teilten Videos und Fotos, die den "Geist von Kiew" zeigen sollten - die meisten davon entpuppten sich als unecht.

Faktencheck Ukraine | ghost_kiev_vladimir_abdonov
Die sogenannte Noise-Analyse des Bildes zeigte, dass der Kopf des Piloten, sein Abzeichen am Arm und die Ukraine-Flagge im Hintergrund nachträglich eingefügt wurdenBild: @tpilotgirl/Twitter

Besonders kurios war ein manipuliertes Bild des mysteriösen ukrainischen Piloten, das in Wirklichkeit einen argentinischen Anwalt aus Buenos Aires zeigte. Letztendlich erklärte auch die Leitung der Luftstreitkräfte der Ukraine, dass es sich beim "Geist von Kiew" um "eine Legende handele, die von den Ukrainern erschaffen wurde", und "ein Sammelbild der Piloten der 40. Luftfahrtbrigade" sei.

Nein, "ukrainische Nazis" randalierten nicht bei der WM in Katar

Passend zur angeblich notwendigen "Entnazifizierung" der Ukraine, die Putin wiederholt als Rechtfertigung für den Angriff benutzt, kursieren im Netz viele Bilder und Videos, die angeblich "ukrainische Nazis" zeigen - zuletzt während der Fußball-WM in Katar. In einem Video mit Al-Jazeera-Logo und -Design wird behauptet, drei betrunkene Ukrainer seien in Doha festgenommen worden, nachdem sie Nazi-Symbole verbreitet und Nazi-Gruß gezeigt hätten.

DW Faktencheck | Screenshot | Circonscripti18 Twitter DE
Angeblich malten Ukrainer in Katar den Hitlergruß neben das WM-Maskottchen

Sowohl Al Jazeera als angeblicher Urheber als auch das DW-Faktencheckteam konnten nachweisen, dass das besagte Video ein Fake ist. Die Anwesenheit ukrainischer Männer in Katar ist nicht plausibel, da sie momentan im Alter zwischen 18 und 60 die Ukraine nicht verlassen dürfen und sich das Land außerdem für die WM gar nicht qualifiziert hat. Das Video liefert keine offiziellen Angaben zur angeblichen Festnahme und besteht aus Archivbildern und Videosequenzen, die keinen direkten Bezug zu der geschilderten Geschichte haben. So tragen die Polizisten im Video nicht die Uniform, die laut katarischem Innenministerium für die Fußball-WM eingesetzt wird. 

Ähnlich wie Al Jazeera erging es bereits auch anderen internationalen Medien wie BBC, CNN und auch DW, wenn Bilder, Screenshots, Videos oder Posts mit meist prorussischen, antiukrainischen oder antiwestlichen Narrativen unter deren Namen verbreitet wurden.

Nein, es wurden keine Putin-Tattoos in einem deutschen Hospiz gestochen

Sich ein kostenloses Tattoo von Wladimir Putin, Sergei Lawrow oder weiteren russischen Politikern stechen lassen, um diese dann wie eine Art lebende Voodoo-Puppe mit in den Tod zu nehmen? Genau das passierte angeblich in einem deutschen Hospiz, wird in einem englischsprachigen Webvideo behauptet, das vom Design her einem DW-Beitrag sehr stark ähnelt.

Doch die Geschichte ist frei erfunden und das Video ein Fake, das aus mehreren alten Videos zusammengeschnitten wurde, wie das DW-Faktencheckteam feststellte. In dem im Fake-Video gezeigten Hospiz in Dülmen (ebenfalls ältere Aufnahmen von 2017 verwendet) bezeichnete man auf DW-Anfrage die Behauptungen, die Bewohner würden sich Tattoos stechen lassen, als "absurd" und "eine gezielte Falschinformation".

Faktencheck Screenshot Video Dülmen DE
Wir haben das Original-Video-Template der DW über das Fake-Video gelegt und so werden leichte Abweichungen deutlich. Neben der Position vor allem bei der Schriftart der Ortsmarken.

Eine Reihe von Grammatikfehlern und graphischen Unstimmigkeiten lässt das Video ebenfalls als Fake-Produktion unter dem DW-Branding entlarven. 

Nein, es gab kein "Vogue"-Cover mit Adolf Hitler und Eva Braun 

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj als Nazi - das ist eines der Hauptnarrative der Desinformation rund um Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Nachdem das US-Magazin "Vogue" Ende Juli einen Beitrag mit mehreren Bildern inklusive Cover über die ukrainische First Lady Olena Selenska und ihren Mann Wolodymyr Selenskyj veröffentlichte, erschien in den sozialen Medien eine tausendfach geteilte Fotocollage, die suggeriert: 1939 habe es im Magazin für Mode und Lifestyle eine Fotosession gegeben, die Adolf Hitler und Eva Braun gewidmet wurde.

DW Fact Check Artikelbild mit Verdict DE
Diese Collage von angeblichen "Vogue"-Covern zirkuliert onlineBild: Twitter/wilson6923

Das ist falsch. Das Foto mit Adolf Hitler und Eva Braun ist nie in der "Vogue" abgedruckt worden - auch nicht als Titelseite. Keine der 24 Magazin-Ausgaben aus dem Jahr 1939, die im "Vogue"-Archiv öffentlich einsehbar sind, zeigte das Paar. Eine Sprecherin der "Vogue" bestätigte der DW ebenfalls, dass es weder auf dem Cover noch im Heft je eine solche Aufnahme gab. Zudem kann man über die Bilderrückwärtssuche feststellen, dass das Bild mit Hitler und Braun für die Fotocollage manipuliert wurde: Auf dem Originalbild ist zwischen den beiden Johanna Morell, die Frau von Hitlers Leibarzt zu sehen.

Nein, in Europa herrschen wegen der Energiekrise keine mittelalterlichen Zustände 

"Es ist an der Zeit, über die Bakterien, Krätzemilben, Flöhe und Läuse zu sprechen, (…) denn das aufgeklärte Europa kehrt anscheinend ins Mittelalter zurück, als man sich da gar nicht gewaschen hat", behauptete Ende April 2022 der Moderator Dmitrij Kiseljow im russischen Staatsfernsehen. Als Anlass diente die Empfehlung des deutschen Wirtschaftsministers Robert Habeck, die Energie auch im Badezimmer zu sparen, sowie die Forderung des Bundesnetzagentur-Chefs Klaus Müller, nicht so oft warm zu duschen. Laut Kiseljow sei Europa wegen des Hasses auf Russland und russisches Gas bereit, die Hygiene zu vernachlässigen, wie schon im Mittelalter. Was angeblich mit einem Parasitenproblem einhergeht.

Doch auch acht Monate später hat sich die erschreckende Prognose nicht bestätigt: Weder auf der nationalen Ebene in Deutschland noch von dem Europäischen Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten EU-weit wird ein signifikanter Anstieg von Milben, Läusen oder Flohbefall verzeichnet. Ein klarer Fall von Propaganda ohne Faktengrundlage.

Doch, es gibt den Klimawandel wirklich

2022 war ein Jahr der Klima-Superlative: Es war der heißeste Sommer Europas seit Beginn der Aufzeichnungen. Pakistan erlebte die bisher schlimmste Überschwemmungskatstrophe, durch die etwa 2000 Menschen ums Leben kamen und rund 20 Millionen Menschen obdachlos wurden. Die amerikanischen Bundestaaten New Mexico und Kalifornien litten unter den bisher verheerendsten Waldbränden. Und dies waren nur drei Beispiele für die extremen Naturphänomene 2022, die für Klimaschützer als offensichtliche Beweise für den Klimawandel gelten.

Nichtdestotrotz behaupten weiterhin einige Nutzer (wie hierauf Twitter): "Es gibt keine globale Erwärmung, keinen Klimawandel". Jedoch sind die Erderwärmung und der Klimawandel bereits seit Jahrzehnten wissenschaftlich nachgewiesen. So erklärt das Deutsche Klima-Konsortium (DKK) in einer Übersicht, dass sich alle Teile des Klimasystems, also Ozeane, Eis, Land, Atmosphäre und Biosphäre in den vergangenen Jahrzehnten deutlich erwärmt haben - und die Luft der Erdoberfläche im globalen Mittel bereits mehr als ein Grad Celsius wärmer sei als in der vorindustriellen Zeit. "Durch den Klimawandel verändern sich die Extreme hinsichtlich der Häufigkeit und der Intensität, das heißt Wetterextreme werden häufiger und sie sind stärker", bestätigte Marie-Luise Beck, Geschäftsführerin des Deutschen Klima-Konsortiums, auf DW-Anfrage.

Und im Sachstandsbericht des Weltklimarats (IPCC) schreiben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 195 Ländern, dass es immer stärkere Belege für Extreme wie Hitzewellen, Starkniederschläge, Dürren und tropische Wirbelstürme sowie insbesondere deren Zuordnung zum Einfluss des Menschen gebe. Weltweit sehen führende Forscher unterschiedlichster Fachrichtungen den Klimawandel und den menschlichen Einfluss auf selbigen als erwiesen an.

Vorsicht, Abtreibung durch Kräuter gilt nicht als sicher

Das Urteil des Obersten Gerichthofs in den USA, dem zufolge die Landesverfassung kein Recht auf Abtreibung gewährt, ebnete den Weg für Abtreibungsverbote in rund der Hälfte der US-Bundesstaaten. Angesichts des drohenden Verbots mehrten sich in den sozialen Netzwerken die Behauptungen, eine Abtreibung sei auch mithilfe von Kräutern wie Petersilie oder Früchten wie Papaya möglich. Doch können solche pflanzlichen Mittel wirklich einen Schwangerschaftsabbruch hervorrufen? Und wie sicher sind sie?

Tatsächlich gibt es kaum Studien, die das ausreichend erforscht haben, stellte das DW-Faktencheckteam fest. Manche Frauen trinken Pflanzen und Kräuter beispielsweise als Tee, essen sie, führen sie vaginal oder auch intravenös ein. All diese Methoden sind laut den von der DW befragten Experten potenziell gefährlich, denn die Wirkung ist nicht kalkulierbar. Manchmal kommt es tatsächlich zu einer Abtreibung durch Kräuter - doch diese ist extrem risikobehaftet. Eine sichere Abtreibung mit pflanzlichen Mitteln, wie in den sozialen Netzwerken versprochen, gibt es nicht.

Nein, Affenpocken sind keine Folge der Corona-Impfung

Von der Veränderung der menschlichen DNA bis zur Unfruchtbarkeit bei Frauen - die Fakes über die angeblichen Nebenwirkungen der Impfstoffe gegen COVID-19 wurden im Jahr 2022 um eine weitere Falschbehauptung ergänzt. Ausgerechnet Affenpocken, so einige Nutzerinnen und Nutzer im Netz, sind angeblich auf den Vektorimpfstoff von AstraZeneca zurückzuführen, der abgeschwächte Adenoviren von Schimpansen enthält - als Träger für die DNA des Corona-Spike-Proteins. Das ist aber falsch, denn Affenpocken und Adenoviren aus Affen haben nichts miteinander zu tun. Die Affenpocken verdanken ihren Namen allein der Tatsache, dass sie zuerst in einer Affenkolonie nachgewiesen wurden, stammen aber eigentlich aus Nagetieren, erklären Wissenschaftler im DW-Faktencheck. Außerdem sind Pockenviren eine andere Virusklasse als Adenoviren, auch Schimpansen-Adenoviren, die die Basis für die Vektorimpfstoffe darstellen.

Übrigens beschloss die Weltgesundheitsorganisation vor kurzem die Krankheit Affenpocken (auf Englisch "Monkeypox") in Mpox umzubennen, um einer Stigmatisierung der Betroffenen vorzubeugen. 

Doch, Katar hat Fans für die WM 2022 "gekauft"

Nach der Vergabe der Fußball-WM 2022 an Katar geriet das Land für seinen Umgang mit den Gastarbeitern auf den Baustellen für Stadien und Infrastruktur in die Kritik. Bis heute ist Zahl der auf den Baustellen gestorbenen Gastarbeitern ungeklärt. Außerdem wurde Katar die Verletzung von Menschenrechten und der Pressefreiheit vorgeworfen. Kurz vor Turnierbeginn warfen mehrere internationale Medien Katar dann auch noch vor, die WM-Fans mit der Kostenübernahme von Flügen, Hotels und Tickets "gekauft" zu haben. Das für die Organisation der WM zuständige Supreme Committee (SC) widersprach den Vorwürfen, die Fans bezahlt zu haben, um im Gegenzug "koordinierte Promotion für die WM" zu erhalten. "Diese Unterstellung ist absolut falsch", hieß es in einem Statement.

Tatsächlich hat Katar aber nach unseren Recherchen im Rahmen des sogenannten "Qatar Fan Leader Network"-Programms ausgesuchte Fußballfans zur WM eingeladen und ihnen Flüge, Hotels, Matchtickets und Aufenthaltskosten bezahlt. Die von uns interviewten Fans bestätigten das Angebot. Und auch das SC hat dies auf DW-Anfrage bestätigt. Dem Vorwurf der erwarteten Gegenleistung widersprach das SC wiederum in einem Statement. Tatsächlich hat Katar aber zumindest einem Teil der Fans einen sogenannten "Code of Conduct" vorgelegt, in dem sich die Fans vertraglich verpflichten sollten, die WM in Katar "durch Liken und Teilen" von Social Media Posts "zu unterstützen". Im Gegenzug erhielten die Fans die erwähnten Leistungen, also durchaus eine Form der Bezahlung.

Als Reaktion auf die Berichterstattung erklärte das SC in einer Mail an die Fan-Leader-Teilnehmer, die Taschengelder für deren Katar-Reise würden gestrichen, so eine Recherche von ARD-Sportschau.