Merkel prägt EU
22. November 2015Nur wenige Tage nach ihrem Amtsantritt wollte es der Zufall, dass Angela Merkel die europäische Showbühne in Barcelona betrat: Ihr allererster Gipfel-Auftritt im November 2005 bei einem Treffen der EU mit Lateinamerika. Die erste Frau im Kanzleramt wurde von den mehrheitlich männlichen Kollegen neugierig beäugt, jede Geste, jedes Statement bewertet. Merkel wirkte noch etwas unsicher, genau wie ihr neues Presseteam. Für das erste Statement wurde mit Klebeband ein Kreuz auf den Teppichboden gemacht. "Wo soll ich stehen?", fragte die frischgebackene Regierungschefin und gab ein paar dürre Sätze zum Besten.
"Wie geht es Ihnen?"
Auf die zugerufene Frage eines Journalisten, wie sie sich so fühle, antwortete Angela Merkel in Barcelona verblüfft: "Na, wie soll es mir gehen. Gut!" Damals formte sie noch nicht ihre Hände zu der Raute, die später ihr Markenzeichen wurde. Die entwickelte sich erst später. Merkel beobachtete ihre europäischen Partner und Gegenspieler genau und schon bald überflügelte sie Chirac, Berlusconi und Blair mit Leichtigkeit. Mit präzisem Sachwissen, ohne jegliche Attitüde als Vertreterin des größten EU-Landes, ohne mit weiblichen Reizen zu arbeiten, schwang sich Merkel schon bald zur obersten Vermittlerin bei europäischen Problemen aus.
Sie schaffte einen Durchbruch im verfahrenen Streit um den EU-Haushalt, sie setzte verbindliche Klima-Ziele für die Europäische Union durch und am Ende schaffte sie als EU-Ratspräsidentin im Frühjahr 2007, was viele nicht für möglich gehalten hatten: Als Kompromiss für die gescheiterte Verfassung wurde der Vertrag von Lissabon gezimmert.
Traumwandlerische Kompromisse
Das Wirtschaftsmagazin "Capital" jubelte damals, Merkel bewege sich auf europäischem Parkett "mit traumwandlerischer Sicherheit", weil sie jeden zu ihrem Freund mache. Als sie dann auch noch durch den Regierungswechsel in Polen, ihren erzkonservativen Widersacher Lech Kaczynski loswurde, konnte sie in Europa "durchregieren". Sie versteht es, mit den französischen Präsidenten Sarkozy und Hollande nach anfänglichen Schwierigkeiten Kompromiss-Maschinen zu schaffen, die die Namen "Merkozy" und "Merkollande" tragen.
Seit der Finanzkrise und der Rettung Griechenlands, Irlands, Portugals und Spaniens vor der Pleite ist sämtlichen 27 Mitregierenden in Europa völlig klar: Ohne "Mutti", wie sie von ihrer eigenen Partei CDU genannt wird, läuft gar nichts. Sie hat das Geld und die Macht. Mehrfach wird Merkel zur mächtigsten Frau Europas und gar der Welt von verschiedenen Medien ausgerufen.
Kritik in der Finanzkrise
Doch in den Hochzeiten der Schulden- und Eurokrise regt sich auch Widerstand gegen Mutti. Demonstranten in Griechenland und Italien zeigen sie als Hitler, als Schulden-Domina, als neoliberalen Folterknecht. Angela Merkel hält das aus. Sie weiß um ihre Stellung in Europa und lächelt das weg.
In Europa ist sie von vielen Freunden umgeben, die konservativen Parteien stellen die meisten Regierungen oder sind in Koalitionen an der Macht. Mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, vormals Ministerpräsident von Luxemburg und der älteste der alten Hasen in Brüssel, pflegt sie wieder ein gutes Verhältnis. Eigentlich wollte Merkel ihn nicht in der Position des Chefs der EU-Kommission, hat sich aber arrangiert.
Nach der Finanzkrise kam die Ukraine-Krise. Merkel war in der Lage, Sanktionen gegen Russland durchzusetzen und den russischen Präsidenten Wladimir Putin im Zaum zu halten. Ihn kennt sie übrigens am längsten. Er war 2005 bei ihrem Amtsantritt bereits Präsident und ist es jetzt wieder.
Offene Arme irritieren Europa
Und dann: Die Flüchtlingskrise. Mit ihrer Forderung, Flüchtlinge aus Syrien in großer Zahl aufzunehmen, hat sie viele ihrer Amtskollegen, besonders aus Osteuropa, verstört. Ob ihr diesmal, im elften Jahr ihrer Regentschaft als Königin Europas, ein Kompromiss gelingen wird, ist noch offen. Das britische Magazin "The Economist" nannte Merkel vor einigen Tagen "unverzichtbar" für Europa angesichts der Herausforderungen.
Das war noch vor den jüngsten Terroranschlägen in Paris. Viele in Europa erwarten von der Bundeskanzlerin Führungskraft auch beim Kampf gegen den "Islamischen Staat". Wird sie liefern? Folgt man dem Chef der konservativen Parteien Europas (EPP), Joseph Daul, dann wird Angela Merkel auch diese Krise meistern. "Sie ist ein seltenes politisches Naturtalent."
"Mein Amt ist erfüllend"
Allerdings erwächst nach zehn Jahren neuer Widerstand. In Polen ist die erzkonservative Kaczynski-Partei wieder zurück an der Macht und torpediert die Flüchtlingspolitik. In Großbritannien sägt der britische Premier an den Grundfesten der EU. "Das geht gar nicht", hat Merkel zu einer von Camerons zentralen Reform-Forderungen gesagt. Die Kanzlerin selbst macht auch in höchster Krisennot auf ruhig und besonnen. Amtsmüde sei sie nicht, sagte sie vor Kurzem im ZDF: "Ne, ich habe gerade zu viel zu tun." Sie werde kämpfen, kündigt Merkel an. "Das ist mein Amt, das ist sehr erfüllend."