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PolitikEuropa

Zeit für neue Allianzen?

Andreas Noll Mitarbeit: Alexander Sawizkij
3. Februar 2022

Im Ukraine-Konflikt ringen die Europäer in vielen Gesprächsformaten um Fortschritte. Nicht nur in dem seit Juni 2014 etablierten Normandie-Prozess. Der britische Premier wirbt jetzt sogar für einen neuen Militärpakt.

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Ukraine-Konflikt
Seit Jahren im Kriegsmodus: Ukrainische Soldaten an der Frontlinie zu den russischen Separatisten im Osten des LandesBild: Vadim Ghirda/AP/dpa/picture alliance

Im ukrainischen Parlament kam es in dieser Woche zu einer ungewöhnlichen Szene. Gut zwei Dutzend Abgeordnete versammelten sich um das Rednerpult und hielten NATO-Fahnen und die Nationalfarben verbündeter Staaten in die Kameras - als Zeichen der Dankbarkeit für die ausländische Unterstützung im Konflikt mit Russland. Gleich zweimal prominent zu sehen: der Union Jack des Vereinigten Königreichs.

Auch als Premierminister Boris Johnson am Dienstag zu einem Besuch in Kiew landete, wehte die britische Nationalflagge in den Straßen der ukrainischen Hauptstadt. Die Ukraine ist dem innenpolitisch schwer angeschlagenen Regierungschef aus London offensichtlich dankbar. Johnsons Regierung hatte dem Land in den vergangenen Wochen Panzerabwehrwaffen geliefert, die britische Armee bildet ukrainische Soldaten aus, und nun stellt der Konservative Kiew in der Krise eine finanzielle Unterstützung von umgerechnet 100 Millionen Euro in Aussicht.

Ukraine Javelin Rakete
Ukrainische Soldaten trainieren den Einsatz einer PanzerabwehrwaffeBild: Ukrainian Defense Ministry Press Service/AP Photo/picture alliance

Und Boris Johnson hat mit seinen Partnern in Kiew noch über ein anderes Thema gesprochen: einen Militärpakt zwischen London, Warschau und Kiew. Die britische Außenministerin sollte das Projekt am Mittwoch eigentlich offiziell vorstellen - krankheitsbedingt musste Elizabeth Truss dann aber kurzfristig absagen.

Traum von einer Mini-NATO

Auch ohne offizielle Präsentation: Für den ukrainischen Staatspräsidenten Wolodymyr Selenskyj ist diese "kleine Allianz", wie er sie nennt, ein "Zeichen der Hoffnung". Sein Außenminister Dmytro Kuleba nennt die Gründe: Hauptziel des Bündnisses sei die Festigung eines Sicherheitsgürtels und die Stärkung der Ostsee-Schwarzmeer-Achse, womit Kuleba vor allem auf die schon heute für die Ukraine wichtige Präsenz der polnischen Marine in der Ostsee und der britischen Streitkräfte im Schwarzen Meer abzielt, die dort die ukrainischen Streitkräfte unterstützen. "Wir können nicht auf Sicherheit und Wohlstand irgendwann in der Zukunft warten, wenn wir Mitglied der EU und der NATO werden. Wir brauchen dies schon jetzt", erklärte der Minister.

Oleksandr Mereschko, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des ukrainischen Parlaments, sieht in Polen und Großbritannien die aktuell zuverlässigsten strategischen Partner der Ukraine. "Vielleicht lohnt es sich auch, über die Schaffung einer Art Mini-NATO nachzudenken. Die allein deswegen könnte lebensfähig sein, weil Großbritannien eines der führenden Länder Europas ist, obwohl es kein EU-Mitglied ist", sagte Mereschko der DW.

Ukraine | Besuch von Boris Johnson
Willkommener Gast: Der britische Premier Boris Johnson bei der Ankunft in Kiew am DienstagBild: Peter Nicholls/AP Photo/picture alliance

In der britischen Öffentlichkeit wird der geplante Militärpakt deutlich nüchterner betrachtet. Johnson hoffe in der Ukraine-Krise seine Qualitäten als Staatsmann unter Beweis zu stellen, um damit auch Kritik an seiner Person aus den eigenen Reihen zu begegnen, schreibt der linksliberale "Guardian". Der frühere Diplomat Hans-Dieter Heumann sieht die Allianz gleichwohl nicht nur innenpolitisch motiviert: "Das 'Dreierbündnis' wird wahrscheinlich keine formelle Allianz", analysiert der frühere Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, der heute an der Universität Bonn lehrt, im Gespräch mit der DW. "Wir sehen einen Versuch des Premierministers, den verkündeten Anspruch auf Global Britain, also als globaler Akteur ohne EU, unter Beweis zu stellen."

Polen als umworbener Partner

Dass sich neben dem umtriebigen britischen Premier auch Polen engagiert, ist keine Überraschung. Warschau ist der engste Verbündete der Ukraine in der NATO und der Europäischen Union. Die polnische Führung ist sehr daran interessiert, der Ukraine den Rücken zu stärken, wo immer es geht. Doch die polnische Regierung macht auch sehr deutlich, wo die Grenzen dieses Paktes liegen. "Aktivitäten auf eigene Faust liegen nicht in unserem Interesse. Unsere Kraft liegt in der NATO. Wenn es nötig wäre, Truppen in die Ukraine zu schicken, werden wir das mit Einverständnis der NATO machen können", so General Waldemar Skrzypczak, der ehemalige Befehlshaber der polnischen Landstreitkräfte und ehemalige stellvertretende Verteidigungsminister. Er äußerte sich im Interview für die Agentur PAP.

Polen Warschau | Tagung Nationaler Sicherheitsrat | Pressekonferenz Andrzej Duda
Peking statt Weimar: Polens Staatspräsident Andrzej DudaBild: Leszek Szymanski/PAP/picture alliance

Skrzypczak nutzte das Interview zum neuen Militärpakt auch für eine deutliche Kritik an der deutschen Ukraine-Politik: "Das Schicken von 5000 Helmen von Deutschland für die Ukraine hat einen kabarettistischen Charakter. Die deutsche Haltung ist rätselhaft."

Für die Bundesregierung ist diese Einschätzung nicht unproblematisch, da neben Großbritannien auch Deutschland und Frankreich um polnische Unterstützung in der Ukraine-Diplomatie werben. Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron stellte dafür einen Gipfel mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz und dem polnischen Staatspräsidenten Andrzej Duda für Freitag in Aussicht. Doch dieses Treffen des Weimarer Dreiecks ist vom Tisch: Terminschwierigkeiten. Medienberichten zufolge wollen die drei sich nun in der kommenden Woche in Berlin treffen. Der polnische Präsident reist an diesem Freitag zur Eröffnung der Olympischen Spiele nach Peking.

Telefonat Biden und Putin
Bewegung in Washington: US-Präsident Biden konferiert mit seinem russischen Kollegen Putin (Dezember 2021)Bild: The White House/REUTERS

Die Musik spielt in Washington

Ob Normandie-Format, wo aktuell deutsche und französische Unterhändler mit Russland und der Ukraine verhandeln, Weimarer Dreieck oder das von London forcierte neue Dreierbündnis: Die Regierungen in Europa ringen derzeit in ganz unterschiedlichen Konstellationen um Fortschritte in der Krise. Sicherheitsexperte Heumann geht dabei nicht davon aus, dass die neue Allianz eine wichtige Rolle für die Bewältigung des Konfliktes spielen wird. Eine Mini-NATO, wie sie einige ukrainische Politiker sich erhoffen, erscheint völlig illusorisch. Gänzlich neue Allianzen außerhalb der NATO, so Heumann, werde es nicht geben, schon weil sie das derzeit so einige Verteidigungsbündnis schwächen würden.

Auf diplomatischer Ebene blickt Heumann derzeit vor allem nach Washington, wo die US-Regierung einen neuen Verhandlungsspielraum geschaffen hat - falls die Antwortschreiben der NATO und der USA an Russland authentisch sind, die die spanische Zeitung "El Pais" veröffentlicht hat. Die separate Antwort der US-Regierung an Moskau - wohlgemerkt: getrennt von dem NATO-Brief - findet der Ex-Diplomat bemerkenswert.

Frankreich Paris | Normandie Treffen | Zelenskiy, Merkel , Macron und Putin
Hoffen auf Fortschritte im Normandie-Format: Gipfeltreffen in Paris im Dezember 2019Bild: Alexei Nikolsky/TASS/picture alliance

Damit hätten die USA erstmals akzeptiert, dass Sicherheit nicht auf Kosten anderer Staaten gehen dürfe. Die NATO pocht bisher auf das Prinzip der freien Bündniswahl, konkret: Kein Staat werde am Beitritt zur NATO gehindert, auch wenn er an Russland grenze. Moskau dagegen besteht auf Garantien für seine ungeteilte und unverminderte Sicherheit.

Der Brief aus Washington ist darum für Heumann ein großer Fortschritt: "Nun liegen sogar konkrete Vorschläge für den beiderseitigen Abzug russischer Truppen an der Grenze zur Ukraine und US-amerikanischer Infrastruktur in der Ukraine auf dem Tisch. Ernsthafte Verhandlungen können nun starten."

Chancen für das Normandie-Format

Derzeit sieht es so aus, als würden die strategischen Fragen zur Sicherheit in Europa vor allem bilateral zwischen Washington und Moskau entschieden. Briten, Franzosen, Deutsche, aber auch die Polen werden dabei über die NATO Einfluss nehmen.

Fortschritte für die Menschen in der Ukraine und die Lage in den Separatistengebieten allerdings, glaubt Heumann, könnten über das Normandie-Format erzielt werden, wo derzeit die Unterhändler nach Lösungen suchen.

Sollte später unter der Führung des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron und von Bundeskanzler Olaf Scholz auf dieser Bühne ein Durchbruch gelingen, werden für das nächste Foto aus dem ukrainischen Parlament vielleicht auch die deutsche und französische Flagge ins Kiewer Parlamentsgebäude getragen. In dieser Woche jedenfalls waren diese Fahnen dort nicht zu sehen.