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75 Jahre Nakba: "Sie ist Teil unseres Lebens"

15. Mai 2023

Zum Gedenktag am 15. Mai reflektieren vier Zeitzeugen und Nachkommen darüber, wie die "Nakba", die "Katastrophe" ihr Leben prägt. Im Arabisch-Israelischen Krieg 1948 verloren rund 700.000 Palästinenser ihre Heimat.

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Ein Mädchen mit Rucksack geht im Flüchtlingscamp Jenin im Westjordanland vor einer Wandmalerei her, auf der unter anderem ein Schlüssel und ein Frauengesicht mit Kufiya, dem schwarz-weißen Palästinensertuch
Der Schlüssel ist das Symbol für das Rückkehrrecht der Palästinenser, die Kufiya-Kopftuch ein palästinensisches NationalsymbolBild: RONALDO SCHEMIDT/AFP/Getty Images

Haya Sinwar (22, aus Jabalija, Gaza): "Wir leben kein normales Leben"

Haya Sinwar stammt aus einer Flüchtlingsfamilie. Die 22-jährige Studentin lebt im Jabalija Flüchtlingslager in Gaza-Stadt. Israel und zum Teil auch Ägypten riegeln den Gazastreifen - der von der militant-islamistischen Hamas regiert wird, die von den USA, der EU und anderen als Terrororganisation eingestuft wird - seit mehr als 16 Jahren weitgehend ab.

"Die Nakba ist eine langanhaltende, palästinensische Tragödie und begleitet uns bis heute, jeden Tag. Ich lebe in einem Flüchtlingslager und habe mit wirtschaftlichen, sozialen und politischen Herausforderungen zu kämpfen.

Ich konnte den Gazastreifen noch nie verlassen. Natürlich würde ich gerne reisen und die Welt außerhalb von Gaza sehen. Ich kenne nichts anderes als das Lager, die kleinen Häuser und engen Gassen, den Lärm, die wenige Infrastruktur und eine oft düstere Stimmung. Ich denke, wenn man älter wird und etwas von dem Leben außerhalb des Gazastreifens mitbekommt, dann wird einem klar, dass wir hier kein normales Leben leben.

Haya Sinwar mit hellgrünem Hijab und schwarzem Kleid blickt ernst in die Kamera
Haya Sinwar (22, aus Jabalija, Gaza): "Wir leben kein normales Leben"Bild: Mohammed Madhoun

Die Nakba betrifft mein Leben als Flüchtling und als Palästinenserin. Ich empfinde eine große Kluft zwischen der Realität, meinen Träumen und dem Recht auf Rückkehr*. Dieses Recht werden wir nie aufgeben, es läuft nicht einfach nach einer gewissen Zeit ab. Egal wie viele Jahre vergehen, wir werden es auch an unsere Kinder weitergeben. Gleichzeitig müssen wir auch unser Leben jetzt leben.

Als junge palästinensische Frau habe ich mit vielen Herausforderungen zu tun. Ich werde bald meinen Abschluss an der Uni machen und mache mir Sorgen, weil es so schwer ist, einen Job zu finden. Ich möchte eine sichere Arbeit und Unabhängigkeit, eine stabile politische Umgebung, ein Leben ohne Krieg, ohne Eskalationen, ohne ständig in Angst leben zu müssen. Es gibt hier keinen Frieden. Es sollte eine Partei geben, die sich für die Palästinenser einsetzt, die unsere Probleme ernst nimmt und nach Lösungen sucht, sodass wir nicht unser Leben vergeuden."

* Laut Resolution 194, die die UN-Vollversammlung 1948 verabschiedet hat, der UN-Resolution 3236 von 1974 und der Flüchtlings-Konvention von 1951 haben Palästinenser, die als Flüchtlinge gelten, ein Rückkehrrecht. Israel lehnt das Rückkehrrecht von Palästinensern mit der Begründung ab, dass dies das Ende von Israels Identität als jüdischer Staat bedeuten würde. 

Sophie Mukarker (89, aus Beit Jala, Westjordanland): "Aber dann war es für immer"

Sophie Mukarker wurde 1933 in der Jerusalemer Altstadt geboren. 1948 musste ihre Familie aus dem heutigen Westjerusalem fliehen. Mukarker lebt heute in Beit Jala, einer Stadt südlich von Jerusalem im von Israel besetzten Westjordanland.

"1948 war ein großer Schock für uns. In den Straßen wurde geschossen und gekämpft. Wir wohnten damals nahe dem Jaffa-Tor, mein Vater hatte dort ein Fotostudio. Ich ging in eine sehr gute Schule, die Saint Joseph’s Schule. Für mich war das das Paradies. Der Unterricht, die Lehrer waren toll, es war ein schöner Ort und wir wurden auf Arabisch, English und Französisch unterrichtet.

Aber all das war vorbei, als wir nach Bethlehem fliehen mussten. Meine Eltern entschieden damals, dass es nicht sicher war, noch länger zu bleiben. In den Straßen wurde gekämpft, es wurde geschossen, auch schon vor 1948. Mein Vater sagte, es sei besser, für eine Weile nach Bethlehem zu gehen, wir hatten dort Verwandte. Gott sei Dank hatten wir Leute, die uns aufnehmen konnten, andere mussten in Flüchtlingslager gehen.

Sophie Mukarker in beigem Strickpullover lächelt in die Kamera
Sophie Mukarker (89, aus Beit Jala, Westjordanland): "Aber dann war es für immer"Bild: Tania Kraemer/DW

Mein Vater konnte nichts von seinem Fotostudio mitnehmen. Er hat damals alles verloren. Das war wirklich schwierig und wir hatten mit so etwas nicht gerechnet. Nachdem wir Jerusalem verlassen mussten, sind meine Brüder weiter zur Schule gegangen. Ich als Älteste konnte leider nicht mehr zur Schule gehen. Ich habe dann sehr jung geheiratet.

Wir dachten damals immer, es sei nur für eine Weile. Aber dann war es für immer.

Als ich später Gelegenheit hatte, Jerusalem zu besuchen, bin ich an der Straße und unserem Haus** vorbeigelaufen. Dann habe ich die Bäume, die Zitronenbäume gesehen; es ist ein sehr trauriges Gefühl, zu sehen, was wir verloren haben. Meiner Meinung nach interessiert sich die Welt nicht mehr dafür, was damals passiert ist. Es ist komplett in Vergessenheit geraten."

**Israels Gesetzgebung erlaubt es Palästinensern nicht, Besitz von 1948 zurückzufordern.

Faizeh Afifi (22, aus Ramallah, Westjordanland): "Als ob es uns überall hin verfolgt"

Faizeh Afifi ist 22, Design-Studentin und lebt in Ramallah im von Israel besetzten Westjordanland.

"Wenn ich an 1948 denke, versuche ich mir vorzustellen, was die Leute damals durchgemacht haben und es darauf zu übertragen, wie wir jetzt leben. Ich schaue dabei nicht nur auf mich persönlich, sondern auf die Menschen, die mich umgeben oder mit denen ich aufgewachsen bin. Dabei habe ich das Gefühl, wir sind die Folgen der Folgen der Folgen dessen, was damals begonnen und nie geendet hat.

Es ist, als ob es uns überall hin verfolgt. Wir sind damit aufgewachsen, es ist Teil unseres Lebens, ob wir es mögen oder nicht. 

Meine Familie kommt aus verschiedenen Orten. Mein Opa wurde in Ramle (nahe Tel Aviv, d.R.) geboren. Der Vater meiner Großmutter ist aus Akka (hebr. Akko nahe Haifa, d.R.) und ihre Mutter kam aus Haifa. Mein Papa ist im Libanon geboren, also gar nicht in Palästina. Meine Eltern konnten im Zuge der Osloer Friedensabkommen Mitte der 1990er in den Gazastreifen umsiedeln, als dort die palästinensische Autonomiebehörde war.

Faizeh Afifi sitzt in schwarzem Pullover und gemustertem Rock auf einer öffentlichen Bank und blickt ernst in die Kamera
Faizeh Afifi (22, aus Ramallah, Westjordanland): "als ob es uns überall hin verfolgt"Bild: Tania Kraemer/DW

Vor zwei oder drei Jahren habe ich Haifa das erste Mal besucht. Es war eine sehr seltsame Erfahrung und ich erinnere mich, dass ich danach meine Oma anrief und sie mich fragte, wie es denn so war. Und dann hat sie mir von damals erzählt: dass ihnen gesagt wurde, sie müssen Haifa verlassen und, dass es nur für eine kurze Zeit sein sollte. Aber letztlich wurden sie belogen. Sie haben nicht viel mitgenommen, nur Handgepäck und den Hausschlüssel. Sie haben das Haus abgeschlossen und sind in den Libanon geflüchtet. Dort haben sie gewartet, eine Woche, dann zwei, dann drei. Sie haben immer darauf gewartet, aber sie konnten nie zurückkehren.

Ich habe das Gefühl, dass die palästinensische Jugend heute mehr zusammenkommt, als Kollektiv. Und dass wir gemeinsam versuchen, Grenzen zu durchbrechen. Vielleicht werden wir sogar noch mutiger, als wir es schon sind. Hier können wir im Grunde keine eigenen Entscheidungen treffen. Unser Leben ist sehr eingeschränkt, man kann sich nicht frei bewegen. Wenn man von Ramallah nach Nablus fahren will, dann sieht man überall (israelische, d.R) Soldaten mit Schusswaffen, die uns terrorisieren. Es ist extrem unangenehm, eigentlich zuhause zu sein, aber sich doch so unwohl zu fühlen. Das Heimatgefühl ist dadurch zerstört. Man ist diesen Bildern täglich ausgesetzt, und sieht die Hässlichkeit jeden Tag." 

Adi Mansour (26, aus Haifa, Israel): "Es ist eine anhaltende Realität"

Adi Mansour ist 26, in Haifa geboren und arbeitet als Anwalt bei einer Menschenrechtsorganisation. Er ist außerdem Aktivist bei der Gruppe Haifa Youth Movement.

"Wenn ich die Nakba als Teil dessen betrachte, wer ich bin und wie ich mich selbst wahrnehme, dann muss ich tief in die Geschichte meines Vaters und meiner Mutter, aber auch meiner Großeltern eintauchen, um zu verstehen, was damals geschah und wie die Nakba Teil ihres Lebens und dann auch meines Lebens wurde.

Dazu gehört auch, die Schwierigkeiten zu sehen, mit denen mein Opa und meine Oma von beiden Seiten zu kämpfen hatten. Mein Großvater wurde 1948 aus Haifa rausgeschmissen. Von dort floh er in den Libanon, und später, als er zurückkam, musste er feststellen, dass in seinem Haus nun jüdische Siedler wohnten. Er musste daraufhin ein Haus teilen und mit seiner Familie in einem einzigen Zimmer leben. Nach der Nakba mussten sie ihr Leben wieder ganz neu aufbauen.

In einem Innenhof mit bepflanzten Blumentöpfen lächelt Adi Mansour in die Kamera, vor ihm steht eine Fernsehkamera auf einem Stativ
Adi Mansour (26, aus Haifa, Israel): "Es ist eine anhaltende Realität"Bild: Tania Kraemer/DW

Als Kind habe ich viele Geschichten gehört. Meine Eltern haben dafür gesorgt, dass ich die geschichtlichen Hintergründe kenne. Auch von meiner Oma direkt habe ich Vieles erfahren, es war wichtig für sie, darüber zu sprechen, nach all den Jahren schien es einfacher für sie zu werden. Aber ich habe das Gefühl, ich weiß immer noch nicht genug. Viele Menschen leben mit den Folgen von dem, was 1948 passiert ist.

Wenn man die Nakba betrachtet, sieht man, wie sie eine ganze Gesellschaft zerstört hat. Und wie die Verbliebenen von allem abgeschnitten - von der arabischen Welt, vom palästinensischen Volk - versucht haben, sich wieder etwas aufzubauen. Für uns, als palästinensische Bürger des Staates (Israel, d.R.) ist die Nakba auch Teil unseres Status. Sie hat unsere Realität geformt, und uns als Feind des Staates definiert. Es war dieses Ereignis, das uns zu Bürgern zweiter Klasse gemacht hat.

Viele denken, die Nakba sei ein historisches Ereignis. Aus unserer Sicht als Palästinenser, ist es eine anhaltende Realität.

Hazem Balousha in Gaza hat zu diesem Artikel beigetragen. Die Interviews wurden gekürzt und redigiert.

Porträt einer Frau mit dunklen Haaren
Tania Krämer DW-Korrespondentin, Autorin, Reporterin