Zitternde Hände
22. Mai 2009
Am Abend des 3. Juni sah Zhang Xianling ihren Sohn zum letzten Mal. Der 17jährige Wang Nan fragte die Astro-Ingenieurin noch einmal um Rat, bevor er auf die Straße ging. "Sag mal, glaubst du, es wird geschossen?" Zhang Xianling teilte die Befürchtung ihres Sohnes nicht. Genau erinnert sie sich, wie sie ihm antwortete: "Nein, es wird sicher nicht geschossen. Selbst während der Kulturrevolution wurde nicht geschossen. Wie kann da heute geschossen werden? Ich glaubte das damals wirklich." Angst um ihn hatte sie trotzdem. Er solle einen Helm mitnehmen, ermahnte sie ihn, um sich vor Schlagstöcken zu schützen. "Bei früheren Massenkampagnen schlug man auch auf die Köpfe. Auch das kann Menschen töten."
"Wer zündet jetzt noch Feuerwerk?"
Der Helm nutzte Wang Nan nichts. Im Frühjahr 1989 galten die Erfahrungen der älteren Generation nicht mehr. In den Straßen Pekings eröffnete die Volksbefreiungsarmee das Feuer auf die eigene Bevölkerung. Auch Zhang hörte die Schüsse in ihrem Haus. "Ich fragte noch meinen Mann: Wer zündet denn jetzt noch Feuerwerkskörper an? Er erwiderte: Du Dummkopf! Jetzt spielt niemand mehr mit Böllern! Da wird geschossen!"
Zhang Xianlings Sohn Wang Nan wurde in dieser Nacht tödlich getroffen. Seitdem versucht Zhang Xianling, die Wahrheit über den Tod ihres Kindes herauszufinden. Als sie ihren Sohn fand, hatte er eine Bandage um die Stirn. Man hatte ihm in den Kopf geschossen. Bis heute treiben drei Fragen Zhang Xianling um: Wer hatte ihm den Verband angelegt? Unter welchen Umständen war er verletzt worden? Wie starb er? Ein mysteriöser Anruf konnte die Fragen nur teilweise klären. Jemand rief bei ihrem Mann an und erzählte ihm detailliert, wo der Junge von der Kugel getroffen wurde und wann er gestorben war. Zum Beleg nannte er die Nummer von Wang Nans Schülerausweis. "Eine lange Zahlenreihe", erzählt sie. "Wer diese Zahlenreihe aufsagen konnte, musste den Schülerausweis meines Sohnes vor sich haben. Diesen Mann muss ich finden, dachte ich.“
Soziale Isolation
Wie die meisten Getöteten wurde Wang Nan hinterher von der Regierung als "konterrevolutionäres Element" bezeichnet. So nannte die Regierung die Studenten und Bürger, die sich an den Protesten beteiligt hatten. Für die Hinterbliebenen eine doppelte Strafe, denn auf den Verlust der Angehörigen folgte nicht selten die soziale Isolation. In den Jahren nach dem Massaker hatten viele Chinesen Angst, mit den Familien der Getöteten in Verbindung gebracht zu werden.
Zhang Xianling kämpft seitdem für eine Rehabilitierung ihres Sohnes. Gemeinsam mit inzwischen mehr als 150 Hinterbliebenenfamilien hat sie sich zur Bewegung der "Tiananmen-Mütter" zusammengeschlossen. Beharrlich und entschlossen sammeln sie alle Indizien und Beweise für das Blutvergießen in Pekings Strassen. Sie setzen sich über alle Verbote hinweg und erinnern in der Öffentlichkeit an ihre ermordeten Angehörigen. Angetrieben werden sie von unsäglicher Trauer – und von dem Gefühl, nach dem Verlust ihrer Kinder nichts mehr zu verlieren zu haben. "Wenn ich an meinen Sohn denke, klopft noch heute mein Herz, meine Hände fangen an zu zittern", sagt sie zwanzig Jahre danach. All ihre Kräfte setzt sie dafür ein, Gerechtigkeit für ihn und die anderen Getöteten zu finden. Es sei das Einzige, was sie noch erreichen wolle. "Wer nicht einmal Gerechtigkeit für sein ermordetes Kind will, verdient es nicht, Mutter zu sein“, sagt sie entschlossen.
Autor: Shi Ming
Redaktion: Mathias Bölinger