Zhou Qing und seine Tiananmen-Geschichte
3. Juni 2019Deutsche Welle: Zhou Qing, Sie waren 24, als China im Frühjahr 1989 von einer Protestwelle erschüttert wurde. Sie selbst haben die chinesische Bewegung in der Metropole Xi'an miterlebt. Was war das eigentlich: eine Demokratiebewegung, eine Studentenbewegung, ein Protest für bessere Lebensbedingungen oder für mehr individuelle Freiheit?
Zhou Qing: Ich finde, das muss man vielschichtig betrachten. Die Studenten standen im Grunde immer noch in der Tradition als patriotisch wahrgenommener Bewegungen wie die des 4. Mai 1919 (Studentenproteste gegen den Versailler Vertrag nach dem Ersten Weltkrieg, der Japans Sonderrechte gegenüber China nicht aufhob, Anm. d. Red.) und die antijapanische Bewegung des 9. Dezember von 1935 (rund 6000 Studenten protestierten gegen Japans Anspruch auf Nordchina, Anm. d. Red.). Ihre Bewegung ging auf dieselben Ursprünge zurück wie die kommunistische Studentenbewegung samt ihres patriotischen Komplexes.
1989 schätzten die Studenten KP Generalsekretär Hu Yaobang als einen Funktionär, der die Intellektuellen achtete. Als er im April 1989 starb, erregte das die Gemüter sehr vieler Menschen.
Eine Sache, gegen die sich ihr Protest vor allem richtete, war die Korruption der Funktionäre. Daneben spielte auch die Unzufriedenheit anderer gesellschaftlicher Gruppen - wie Bauern, Arbeiter und alle möglichen - mit hinein. Das hatte mit der Wirtschaftsreform zu tun. 1988 wurde die "doppelte Preisgestaltung" eingeführt (bei dem die Waren in den staatlichen Läden andere Preise hatten als auf dem freien Markt, Anm. d. Red.). Die Preise explodierten, was zu großer Unzufriedenheit in der Gesellschaft führte.
Und dann gab es noch den ganz geringen Anteil derjenigen, die die Gelegenheit nutzen wollten, um in China Demokratie und Freiheit voranzubringen und universellen Werten zu Geltung zu verhelfen.
Wie umfangreich war die Bewegung?
Es ist ein Fehler zu glauben, dass sich 1989 alles nur auf dem Tiananmen, dem Platz des Himmlischen Friedens, abgespielt hat. Es gab Proteste in mehr als 200 Städten, und neben Peking passierte besonders viel in Xi'an, Changsha, Chengdu und Shanghai.
Sie wurden wegen Ihrer Teilnahme an den Demonstrationen festgenommen und waren fast drei Jahre lang unter grausamen Bedingungen inhaftiert. Was hat Ihnen als so junger Mensch damals die Kraft gegeben, unbeugsam zu bleiben?
So ist der Mensch, er hält bis zuletzt alles aus. Wenn ich von mir spreche, weshalb ich bis heute ziemlich stabil durchgehalten habe, dann verdanke ich diese Kraft dem Lesen und meinen Studien.
Die 80er Jahre waren eine relativ freie Periode der Öffnung, in deren Verlauf jede Menge bedeutende westliche Werke und darüberhinaus auch einige wichtige Bücher osteuropäischer Dissidenten veröffentlicht wurden. Durch diese Übersetzungen haben wir erst begriffen, dass es noch etwas ganz anderes gab als das, was wir kannten, ein anderes Gesellschaftssystem. Und wir erfuhren auch von Möglichkeiten des Widerstands. Das war ungeheuer wichtig. Viele der Bücher, die in den Achtzigerjahren erschienen, sind heute in China verboten. Den Einfluss, den die westlichen Klassiker, die in jenen Jahren publiziert wurden, auf die Bewegung von '89 hatten, darf man keinesfalls unterschätzen.
Sie haben nach Ihrer Haft noch lange als freier Journalist und kritischer Sachbuchautor in China gearbeitet. Heute leben Sie als Autor und Dokumentarfilmer in Berlin. Können Sie nach China zurückkehren?
Ich habe noch einen chinesischen Pass, deshalb kann ich noch zurückgehen.
Die Niederschlagung der Demokratiebewegung in China hat 1989, vor genau 30 Jahren, die Welt erschüttert. Wenn Sie heute in China vom "4. Juni" sprechen, ist das für junge Leute mehr als ein Datum?
Es gibt einen Satz, der hier sehr gut hinpasst: Wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht auch die Zukunft. Der Kampf um die Erinnerung zwischen der kommunistischen Obrigkeit und den normalen Menschen erlebt gegenwärtig seinen Höhepunkt. Die kommunistischen Verwalter versuchen die ganze Zeit, die Geschehnisse um den 4. Juni zusammen mit der Kulturrevolution, der Anti-Rechtsabweichler-Kampagne von 1957 und der noch frühere Ausrichtungsbewegung von Yan'an (mit der sich Mao 1942 gegen andere hohe KP-Mitglieder durch- und an die Spitze der Kommunisten setzte, Anm. d. Red.) im Dunkel der Vergangenheit verschwinden zu lassen. Die Vergangenheit zu verhüllen, das ist die Methode, durch die sie ihre Macht stärken und weiter regieren können.
Ist dieser Jahrestag in China im allgemeinen Bewusstsein?
Es gibt in China Tage des offiziellen Gedenkens und die traditionellen Trauertage. Dass aber der 4. Juni im Volk so etwas wie ein Gedenk- und Trauertag werden könnte, macht die chinesischen Autoritäten äußerst nervös.
Gibt es aktuell Ansätze im Internet, sich mit diesen Geschehnissen auseinanderzusetzen? Wird in Foren darüber gesprochen, vielleicht mit anderen Schriftzeichen getarnt, wie es ja manchmal bei kritischen Themen oder Begriffen geschieht?
Die Chinesen wissen sich immer zu helfen. Wenn die Behörden "4. 6." verbieten, egal ob in Zahlen oder chinesischen Schriftzeichen, dann schreiben sie eben zum Beispiel Juni 1+3 oder 35. Mai oder sie fotografieren irgendwo die Hausnummer 64 (die Monatszahl steht im Chinesischen vor der des Tages, Anm. d. Red.) und wählen das Bild als ihr Icon. Die Leute lassen sich alles Mögliche einfallen - und das mit viel Humor.
Sehr viele chinesische Intellektuelle, Schriftsteller, Filmemacher und Künstler mussten nach dem 4. Juni fliehen und jahrelang im Exil leben. Im Ausland haben sie dann die Niederschlagung der Demokratiebewegung in ihren Werken verarbeitet. Die meisten von ihnen sind inzwischen nach China zurückgekehrt. Sind ihre Werke in China erhältlich - sei es im Netz oder über die Ladentheke - und haben sie noch Einfluss?
Ich glaube, dass ihr Einfluss äußerst gering ist. Das menschliche Leben ist kurz, und wenn man keine Hoffnung hegt, dass die Machtverhältnisse sich ändern, dann ist man unter Umständen zu Kompromissen bereit. Viele derjenigen, die nach China zurückgekehrt sind, haben mit der Regierung zusammengearbeitet. Da blieb also nichts mehr, was noch hätte Einfluss ausüben können.
Gibt es denn überhaupt noch Schriftsteller oder andere Intellektuelle, die die damaligen Geschehnisse zu ihrem Thema machen?
Die gibt es, natürlich. Wenn es diese Menschen nicht gäbe, dann wäre es um die chinesische Nation wirklich traurig bestellt.
Welche Menschen sind das?
Das sind zum Beispiel die "Mütter des Tiananmen" oder einige der "berühmten Alten", die während des 4. Juni dabei waren. Noch wichtiger sind die Menschen, die wegen des 4. Juni im Gefängnis waren, die attackiert wurden und keine Arbeit fanden und die dann später für gemeinnützige Organisationen oder NGOs arbeiteten. Für die hege ich höchste Hochachtung. Solche Leute lassen für Chinas Zukunft hoffen, sie haben ihre luftigen Ideale an der Praxis geschärft.
Gibt es insgeheim vielleicht sogar politische Kräfte, die eine Aufarbeitung wünschen?
Das halte ich für äußerst unwahrscheinlich. Viele Leute, vor allem westliche Chinawissenschaftler, unterscheiden in der KP-Elite Reformer und Konservative - das halte ich für spekulativ. Sie haben keine Motivation, sich zu reformieren oder zum Tiananmen-Massaker Stellung zu beziehen. Als hohe Kader haben sie alle Privilegien, auch materiell, warum sollten sie das aufgeben? Zu einer Aufarbeitung des 4. Juni wird es allenfalls kommen, wenn es einer Gruppe bei einer parteiinternen Auseinandersetzung zum Machtgewinn verhelfen könnte. Das wäre eine Möglichkeit.
Der Schriftsteller und Menschenrechtler Liu Xiaobo hat einmal geschrieben: "Die Zukunft der Freiheit in China ist die Zivilgesellschaft". Wie sehen Sie die Chancen für eine freie chinesische Gesellschaft?
Ich glaube, dass China sich auf dem Weg zu einer demokratischen, freien und rechtsstaatlichen Gesellschaft befindet. Daran hege ich nicht den geringsten Zweifel. Denn die allermeisten Chinesen haben den hellen Schein draußen schon erlebt, und sie werden sich in diese Richtung aufmachen - um jeden Preis.
Zhou Qing, geboren 1964 in Xi'an, Provinz Shaanxi, wurde als Sachbuchautor, politischer Kommentator und Dokumentarfilmer bekannt. Sein 2004 veröffentlichtes Buch "What Kind of God: China's Food Safety" (Wovon soll sich unser Volk in Zukunft ernähren - Skandale um Lebensmittel) schlug in China hohe Wellen. Es wurde in zehn Ländern publiziert und international zum Bestseller. 2006 erhielt er den Lettre Ulysses Preis für die Kunst der Reportage. 2017 veröffentlichte der Regimekritiker einen Dokumentarfilm über die Kulturrevolution. Zhou Qing lebt seit 2009 meistens in Deutschland, mittlerweile in Berlin.
Das Gespräch führte Sabine Peschel.