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Zurück auf die Straße

Greta Hamann17. Juli 2013

Nach den Massenprotesten im Juni kündigte die Regierung Brasiliens zahlreiche Reformen an. Die Bevölkerung ist dennoch unzufrieden: Sie fordert einen tiefgreifenden Wandel.

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Brasiliens Proteste in Rio de Janeiro (Foto: DW/Sam Cowie)
Bild: DW/Sam Cowie

Mit Spannung fiebern hunderttausende Brasilianer dem 7. September entgegen. Da ist nicht nur der brasilianische Nationalfeiertag. Dann soll auch der größte Massenprotest, den das südamerikanische Land je gesehen hat, stattfinden - so der Plan der Facebook-Gruppe "Anonymous Brasil". Derzeit haben rund 220.000 Personen im sozialen Netzwerk Facebook zugesagt, an diesem Tag wieder auf die Straße zu gehen. Fast im Sekundentakt kommen neue Teilnehmer dazu.

Der Grund für den erneuten Protestaufruf: Die Brasilianer sind nicht zufrieden. Die bisherigen politischen Reformen waren für viele nicht weitreichend. Antonio Testa, Politikwissenschaftler an der Universität von Brasília, glaubt, dass mehr Demonstrationen stattfinden müssen, um tiefgreifende Veränderungen in der brasilianischen Politik anzustoßen.

Brasilianer demonstrieren (Foto: REUTERS/Paulo Santos)
Im Juni gingen hunderttausende Brasilianer auf die StraßeBild: Reuters/Paulo Santos

Auch der portugiesische Soziologe und Politikwissenschaftler Boaventura de Sousa Santos kann sich nicht vorstellen, dass die Politik ohne den Druck der Straße viel verändern wird. Zwar hätten die Politiker in relativ kurzer Zeit nach den Massenprotesten im Juni einige wichtige Gesetze verabschiedet, sagt Santos. Doch genau das zeige auch die negative Seite der brasilianischen Politik: "Der Kongress bewegt sich lediglich unter öffentlichem Druck."

Reformen und Volksabstimmung nach Massenprotesten

Nach den großen Massendemonstrationen des letzten Monats stieß die Regierung einige Reformen an, manche wurden bereits umgesetzt. Die geplante Erhöhung der Fahrpreise für den öffentlichen Nahverkehr wurde in fast allen Städten wieder zurück genommen, mancherorts wurden die Preise sogar gesenkt. Die Fahrpreise waren unter anderem Auslöser für die Massenproteste im Juni gewesen.

Präsidentin Dilma Rousseff schlug eine Volksabstimmung zur Reform wichtiger Bereiche des politischen Systems vor. Doch ihr Vorhaben scheiterte am brasilianischen Abgeordnetenhaus. Jetzt soll sich eine Arbeitsgruppe um das Thema kümmern.

Ablenkungsmanöver der Regierung

"In Brasilien werden Arbeitsgruppen gegründet, wenn man das Problem nicht lösen will", sagt Politikwissenschaftler Antonio Testa. Die Politiker hätten kein Interesse an tiefgreifenden Reformen. Würden die Vorschläge der Präsidentin, zu denen auch die Reform des Wahl- und Parteiensystems gehörten, umgesetzt, wäre der teilweise sichere Platz im Senat vieler Abgeordneter gefährdet. Die kürzlich beschlossenen Reformen sind laut Politikwissenschaftler Testa nur eine Taktik, um von den tiefer liegenden Problemen abzulenken.

Das komplette politische System Brasiliens müsste auf allen Ebenen reformiert werden, meint Testa. Für viele Vorgänge sei bisher zu viel Bürokratie nötig. Der Staat arbeite höchst ineffizient: "Brasilien hat 36 Jahre gebraucht, um sein ziviles Gesetzbuch zu ändern, so dass Männer und Frauen vor dem Gesetz gleich sind." Dass Gesetzesvorhaben Jahre brauchen bis sie verabschiedet sind, ist keine Seltenheit in dem südamerikanischen Land. Außerdem besteht die Regierung aus 39 Ministerien. Zum Vergleich: Deutschland hat 14, die USA 15 Ministerien.

Boaventura de Sousa Santos. (Foto: Agência Brasil)
Soziologe Santos glaubt, dass die Proteste in Brasilien noch größer werdenBild: CC BY 3.0 BR

Unübersichtliche Parteienlandschaft Brasiliens

Dazu ist die Handlungsfähigkeit der regierenden Arbeiterpartei (PT) stark eingeschränkt: Die aktuelle Regierungskoalition besteht aus über 20 Parteien. Parteienwechsel einzelner Politiker kommen häufig vor. Die im März 2011 gegründete PSD (Partido Social Democrático) kann 48 Abgeordnete und zwei Senatoren stellen, obwohl die Partei noch nie zur Wahl stand. Die Politiker waren ursprünglich auf den Listen anderer Parteien angetreten und sind so an ihr Mandat gekommen. Besonders nach den Wahlen werden zahlreiche Parteiwechsel beobachtet: Viele Politiker wollen dann in die machthabenden Bündnisse eintreten.

Um solche Zustände ändern zu können, benötigen Politiker und Bevölkerung jedoch einen langen Atem: "Das kann Monate, Jahre, ja sogar Jahrzehnte dauern. Man muss aber jetzt damit anfangen, sonst passiert nichts", so der Politikwissenschaftler Testa.

Brasiliens Politik braucht neue Kommunikationswege

Marina Silva, ehemalige Umweltministerin Brasiliens und derzeit größte Konkurrentin Dilma Rousseffs sagt, dass auch die Art und Weise der politischen Kommunikation revolutioniert werden müsse: "Es geht nicht mehr darum, zu den Menschen zu sprechen, wir müssen Wege finden, uns mit ihnen zu unterhalten."

Diese Wege hat die brasilianische Präsidentin bisher jedoch nicht oft genutzt. Ihre letzte Mitteilung beim Kurznachrichtendienst Twitter stammt auf dem Jahr 2010. Und beim wöchentlichen Radioprogramm "Kaffee mit der Präsidentin" erzählt Dilma Rousseff 15 Minuten von neuen Errungenschaften ihrer Regierung - unterbrochen nur von kurzen Zwischenfragen der Moderatorin.

Proteste müssen besser werden

Nicht nur die Präsidentin, auch die Demonstranten müssten sich weiter entwickeln, um erfolgreich zu sein, sagt Politikwissenschaftler Testa. Er rät ihnen, sich weiter auf das Internet zu konzentrieren. Derzeit breche in den sozialen Netzwerken ein regelrechter politischer Krieg aus. "Das tut der Demokratie gut", so Testa. "Allerdings muss sich auch die Qualität der Proteste auf der Straße ändern", sagt er mit Blick auf den Vandalismus mancher Demonstranten.

Dilma Rousseff (Foto: REUTERS/Ueslei Marcelino)
Die Sympathie für Präsidentin Dilma Rousseff ist gesunkenBild: Reuters/Ueslei Marcelino

Soziologe Santos glaubt, dass die brasilianische Regierung bald handeln muss: "Wenn die Regierung nicht auf die Forderungen der Protestierenden eingeht, dann wird es wieder Demonstrationen geben - und diese werden noch größer und zudem unkontrollierbar sein." Und während er diesen Satz spricht, haben sich schon wieder fünf weitere Menschen für die Demonstrationen am 7. September angemeldet.