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Politik

"Ein Einzelner macht alles kaputt"

23. Dezember 2016

Tunesien, Heimat des mutmaßlichen Berliner Attentäters, hat ein Dschihadismus-Problem, sagt DW-Maghreb-Experte Moncef Slimi. Die Sicherheitskooperation zwischen Europa und dem Maghreb müsse ausgebaut werden.

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Tunesier Anis Amri
Ein Jugendfoto. Anis Amri ist bereits früh mit dem Gesetz in Konflikt geraten Bild: picture-alliance/AP Photo

DW: Was wissen Sie über Anis Amri?

Moncef Slimi: Anis Amri stammt aus der Gegend von Kairouan, einer der ärmsten Provinzen Tunesiens. Kairouan selbst gilt als spirituelle Hauptstadt Tunesiens. Sie ist aber auch eines der Zentren des tunesischen Salafismus. Die in Teilen verbotene Gruppe "Ansar al-Sharia" etwa hat dort unter massiver polizeilichen Präsenz einen ihrer Kongresse abgehalten - kurz nach der Revolution des Jahres 2011, als der tunesische Staat sich gegenüber islamistischen Gruppen noch halbwegs tolerant zeigte. Zu dieser Zeit allerdings hatte Anis Amri Tunesien schon in Richtung Europa verlassen.

Er kam dann nach Italien.

Im Alter von 17 Jahren verließ er Tunesien und erreichte Italien als illegaler Migrant. Wegen Brandstiftung und Körperverletzung wurde er dann zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt. Man muss sagen, dass die Situation in italienischen Gefängnissen für tunesische Häftlinge sehr schwierig ist. 40 bis 50 Prozent aller in Italien einsitzenden ausländischen Häftlinge sind Tunesier. Ich habe zu ihrer Lage mehrere Gespräche geführt: In aller Regeln haben sie weder zum tunesischen Konsulat noch zu ihrer Familie Kontakt. Die Häftlingen sind überwiegend isoliert - eine ideale Bedingung, um sie anzuwerben. Sei es für kriminelle Zwecke durch die Mafia oder für den religiösen Extremismus durch radikale Salafisten oder Dschihadisten.

Anis Amri wäre nicht der erste Tunesier, der einen Anschlag auf europäischem Boden verübt. Auch der Attentäter von Nizza, der ebenfalls mit einem Lkw 86 Menschen tötete und über 300 verletzte, stammte aus Tunesien. Warum immer wieder aus Tunesien?

Der ehemalige Anfang Januar 2011 geflohene Diktator Ben Ali hat gegen alle Islamisten - gemäßigte ebenso wie radikale - einen sehr harten Kurs gefahren. Darum haben sehr viel Islamisten das Land verlassen. In Teilen des Nahens Ostens fanden sie ein fruchtbares Umfeld: Wahhabisten, Dschihadisten - alle waren sie da. Nach der Revolution in Tunesien kehrten sie zurück und konnten sich zunächst recht ungehindert ausbreiten. Sie organisierten sich und bildeten Netzwerke.

Slimi Moncef Kommentarbild provisorisch
DW-Maghreb-Experte Moncef Slimi

Und die gaben sie auch trotz der aufziehenden Demokratie nicht auf?

In der Tat. In Tunesien gab es eine neue Verfassung und freie Wahlen. Dafür erhielten einige tunesische Aktivisten im Jahr 2015 auch den Friedensnobelpreis. Zugleich aber liegt Tunesien in einer politisch sehr unruhigen Gegend - in Nachbarschaft autoritärer, paramilitärischer Regime. Und sein östlicher Nachbar, Libyen, ist völlig destabilisiert. Zugleich gibt es aber auch enge wirtschaftliche Beziehungen zwischen den beiden Ländern - ein Viertel der Tunesier ist ökonomisch in irgendeiner Form mit Libyen verbunden. In diesem Kontext sind aber auch sehr viele tunesische Dschihadisten nach Libyen eingesickert.

Es gibt also eine Art dschihadistisches Hinterland, von dem aus die Extremisten Tunesien zu destabilisieren versuchen. Im März letzten Jahres war der "Islamische Staat" für einige Stunden sogar in eine tunesische Grenzstadt einmarschiert. Diese Katastrophe konnte auch dank westlicher Unterstützung verhindert werden. Tunesien hat sehr viel militärische und wirtschaftliche Unterstützung erhalten, um seine Grenzregion zu sichern - auch von Deutschland.

Und das hat auch dazu geführt, dass Dschihadisten nun auch Deutschland ins Visier nehmen?

In Teilen ja! Deutschland gehört zur Internationalen Koalition gegen den IS, die diesen im Irak und in Syrien bekämpft. Zugleich hat der IS versucht, sich in die Reihen der Flüchtlinge zu mischen, die nach Deutschland kamen. Wenn ein Land innerhalb eines Jahres über eine Millionen Flüchtlinge aufnimmt, kann es diese unmöglich sicherheitstechnisch überprüfen. Dschihadisten haben sich unter die Flüchtlinge gemischt, das hat sich bereits bei den Attentaten im November 2015 in Paris und im März 2016 in Brüssel gezeigt.

Ein anderer Punkt ist der Umstand, dass Deutschland die Demokratie in Tunesien sehr unterstützt hat - politisch, militärisch und in der Ausbildung tunesischer Sicherheitskräfte. Das missfällt den Dschihadisten, weil gerade Tunesier für ihre Zwecke sehr wichtig sind. Denn diese kennen häufig die europäischen Länder und finden sich dort zurecht. Darum werben sie die Tunesier an und schicken sie nach Europa. Die Tatsache nun, dass der Anschlag zur Weihnachtszeit mitten in Berlin stattfand, also einem der Zentren der westlichen Welt, werten die Dschihadisten als großen propagandistischen Erfolg. Damit wollen sie demonstrieren, dass sie jederzeit und überall zuschlagen können. 

Was auch ein schlechtes Licht auf die Sicherheitsbehörden wirft.

Ja und zwar sowohl auf die deutsch-tunesische Zusammenarbeit als auch auf die deutschen Sicherheitskräfte. Sie funktionieren längst beide noch nicht perfekt und müssen unbedingt verbessert werden. Diese Schwächen nutzen die Dschihadisten konsequent aus. Und so kommt es, dass ein einziger Tunesier zahllose andere, die in Deutschland und Europa leben, ins Unglück stürzen kann. Sie haben sich hier integriert, sie kennen und mögen das Land - und dann kommt ein Einzelner und macht alles kaputt.

Moncef Slimi ist Mitglied der arabischen Redaktion und Maghreb-Experte der Deutschen Welle. Er ist selbst Tunesier.  

Das Interview führte Kersten Knipp

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika