Zurück von der Front: Warum töten russische Soldaten weiter?
16. Juni 2024Die Rückkehr Alexander Mamajews von der Front in der Ukraine endete in einer Tragödie. Während einer Feier betrank sich der 44-Jährige und erstach seine Frau vor den Augen ihrer Kinder mit einem Messer. Er hatte gedacht, seine Frau habe nach dem Geld in seiner Hosentasche gegriffen. Menschen, die Mamajew kennen, der aus Sawolschje in der russischen Region Nischni Nowgorod stammt, sagten dem Gericht, dass er vor dem Kriegseinsatz ein ruhiger Mensch gewesen sei, der "keiner Fliege etwas zuleide getan hätte".
Das ist nur ein Beispiel der Verbrechen, die Teilnehmer der russischen Invasion der Ukraine nach ihrer Rückkehr nach Hause begehen. Oft passiert das unter Alkoholeinfluss. So war es im Fall des Sergeanten Stanislaw Ionkin, der im vergangenen Jahr seinen Urlaub von der Front in einem Nachtclub feiern wollte. Dort kam es ihm zufolge zu einem Streit. Ionkin schoss mit einer Signalpistole, deren Leuchtpatrone ein Feuer entfachte. 13 Menschen starben.
Nach Angaben des im Jahr 2022 im Ausland gestarteten russischsprachigen Onlinemediums "Verstka" haben Kriegsteilnehmer innerhalb von zwei Jahren 190 Verbrechen begangen, davon 55 Morde. Die meisten Täter waren dabei alkoholisiert. Sie klagten später über unkontrollierte Gewaltausbrüche. Psychologen zufolge sind dies Anzeichen für eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Aus den Berichten über Straftaten in Russland geht hervor, dass viele der Verbrechen von einstigen Söldnern der Privatarmee "Wagner-Gruppe" begangen wurden.
Die Behörden Russlands haben ein Programm zur Behandlung von Teilnehmern der russischen Invasion der Ukraine gestartet, die von der Front zurückkehren und an einer Belastungsstörung leiden. Der Bedarf ist so groß, dass nicht allen Betroffenen geholfen werden kann. Hinzu kommt, dass viele Militärs mit PTBS eine Hilfe ablehnen.
Psychische Probleme
Eines der häufigsten Probleme, über die Militärs in sozialen Netzwerken berichten, sind Albträume und ständige Flashbacks - traumatische Erfahrungen, die immer wieder in ihnen hochkommen. Bei ihnen entsteht beispielsweise weit entfernt vom Kampfgebiet das Gefühl, beschossen zu werden, meist an Orten, wo sich viele Menschen oder Fahrzeuge befinden.
Andere verlieren die Fassung, wenn ein Feuerwerk losgeht, oder haben Angst, ohne Waffe nach draußen zu gehen. "Im Krieg denkt man, dass mit einem alles stimmt. Aber dann kehrt man ins zivile Leben zurück und begreift, wie stark es sich unterscheidet. Mit der Zeit spürt man, dass man sich innerlich verändert hat", sagt ein Kriegsheimkehrer gegenüber der DW.
Der 23-jährige Andrej (Name geändert) ist russischer Vertragssoldat. In den beiden zurückliegenden Kriegsjahren hat er sich laut seiner Freundin Swetlana stark verändert. Früher sei Andrej gesprächig und fröhlich gewesen, doch nun sei er ein zurückgezogener und aggressiver Mann. "Schon vor längerer Zeit, als wir uns per Videoanruf unterhielten, sagte er, dass er verrückt werde", so die junge Frau. Mit Andrej telefonierte sie daraufhin seltener und seine Antworten auf Textnachrichten wurden immer kürzer. Dieses Jahr bekam das Paar ein Mädchen, aber Andrej besuchte Frau und Kind während seines letzten Urlaubs nicht. "Einmal schrieb er unschöne Dinge, auch über unser Kind. Ich dachte schon, unsere Beziehung sei am Ende. Doch am nächsten Tag entschuldigte er sich in einer Sprachnachricht und sagte, dass er einfach durchdrehe", erzählt Swetlana. Die junge Frau hofft, dass der Gedanke, Vater zu sein, Andrej helfen wird, im Leben Halt zu finden.
Zurück an die Front
Laut einer Studie des St. Petersburger Psychoneurologischen Bechterew-Forschungsinstituts kann sich bei drei bis elf Prozent der Kriegsteilnehmer eine PTBS entwickeln. Vergangenes Jahr verschickte das Institut Behandlungsmethoden an verschiedene Einrichtungen und die russischen Behörden kündigten die Schaffung entsprechender Rehabilitationszentren an.
Laut dem russischen Gesundheitsministerium nahmen 2023 innerhalb eines halben Jahres 11.000 russische Militärs, die am Krieg gegen die Ukraine teilgenommen hatten, aber auch ihre Familienangehörigen, psychologische Hilfe in Anspruch. Es sind meist Männer, die aus gesundheitlichen Gründen aus der Armee ausscheiden, oder Angehörige gefallener Soldaten. Aber Gesundheitsminister Michail Muraschko musste zugeben, dass im Jahr 2023 nur 15 Prozent der Betroffenen eine Behandlung bekommen konnten.
Einige Soldaten, bei denen eine PTBS diagnostiziert wurde, mussten sogar wieder zurück an die Front. So erging es dem 25-jährigen Alexander Strebkow, der im Rahmen der Mobilmachung zur Armee eingezogen worden war. Trotz der Diagnose der Ärzte, wonach ihm keine Waffe in die Hand gegeben werden darf, wurde er wieder ins Kriegsgebiet geschickt.
Warnung vor Folgestörungen
Bei großen militärischen Konflikten wie der Invasion der Ukraine könnte die Zahl der psychischen Störungen unter Militärs deutlich höher sein als in der Studie des Bechterew-Instituts angegeben, sagt ein russischer Psychotherapeut, der nicht namentlich genannt werden möchte. Er beruft sich auf das amerikanische Kriegsveteranenministerium, das die Häufigkeit von PTBS unter Militärs in verschiedenen Konflikten auf bis zu 29 Prozent schätzt.
Der Therapeut rechnet daher mit einem Anstieg von Verbrechen in Russland, die auf PTBS unter Soldaten zurückzuführen sind. "Man muss bedenken, dass einige Kriegsteilnehmer, wie die der 'Wagner-Gruppe', bereits eine kriminelle Vergangenheit hatten. Ihre Psyche könnte durch Kampfhandlungen weiter gelitten haben", so der Therapeut. Er warnt, eine nicht behandelte PTBS könne Folgestörungen hervorrufen. "Es kommt die Abhängigkeit von Alkohol oder psychotropen Substanzen hinzu, was Probleme in der Gesellschaft mit sich bringt." Dem Therapeuten nach leiden darunter vor allem die Familien, was die Psyche von Kindern schädigt.
Heroisierung oder Einsicht?
Eine Behandlung basiert darauf, traumatische Erfahrungen nachzuerleben, sagt der Therapeut, der unter anderem Veteranen der Kriege in Tschetschenien betreut hat. "Ein solches Nacherleben hilft Patienten, die Erfahrungen mehrmals zu durchleben", sagt er. Eine Genesung erfordert im Schnitt zehn Sitzungen über einen Zeitraum von sechs Monaten.
Einige Psychologen, die Militärs mit PTBS behandeln, versuchen, die Erfahrungen der Männer zu verherrlichen. "Zwar kann das in emotionaler Hinsicht bei der Therapie unterstützend wirken, doch im Hinblick auf die menschlichen Werte kann dies dazu führen, dass Gewalt und Aggression als normal empfunden werden", warnt der Therapeut. Statt einer illusorischen Heroisierung sollte man den Betroffenen dabei helfen, zu verstehen, in welcher Lage sie sich befinden - und man sollte Schuldgefühle aufarbeiten.
Als Beispiel führt er Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg an. Damals habe es den Begriff PTBS so noch nicht gegeben, auch keine Behandlung, aber die deutsche Gesellschaft habe ihre Ansichten überdacht. "Hauptaufgabe einer Therapie ist, das Leben des Patienten zu normalisieren, damit er seine Fehler begreift und ein neues Leben aufbaut", so der Therapeut. "Darauf hat jeder Mensch ein Recht."
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk