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Gesellschaft

Die Trauer kommt wie eine Welle

24. März 2017

Darf man lachen, wenn man trauert? Abitur feiern, wenn 16 Mitschüler und zwei Lehrerinnen gestorben sind? Die Trauerbegleiterin Mechthild Schroeter-Rupieper steht Eltern, Geschwistern und Freunden in Haltern am See bei.

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Deutschland Trauergottesdienst in Haltern
27.03.2015: Trauerfeier in Haltern am See - 16 Schüler und zwei Lehrerinnen starben beim Germanwings-AbsturzBild: Reuters/I. Fassbender

"Wir brauchen Sie hier", flehte eine Mutter vom Joseph-König-Gymnasium in Haltern. Sie rief die Trauerbegleiterin in Gelsenkirchen an, als sie hörte, dass 16 Schülerinnen und Schüler und ihre Lehrerinnen nicht zurückkehren würden von ihrer Spanien-Austauschreise. Sie waren mit dem Germanwings-Flug 4U 9525 von Barcelona nach Düsseldorf unterwegs, als die Maschine in den französischen Alpen zerschellte.

Viel später ergaben französische und deutsche Ermittlungen, dass der Copilot das Flugzeug mit 150 Menschen an Bord zum Absturz gebracht hatte. Am Nachmittag des 24. März 2015 fuhr Mechthild Schroeter-Rupieper vom Lavia-Institut für Familien-Trauerbegleitung sofort mit einer Kollegin nach Haltern.

Der Notfallseelsorger bat sie, am nächsten Tag wiederzukommen. Sie ging mit einer Lehrerin in eine 5. Klasse, zeigte Wege aus der Sprachlosigkeit. Sie schrieb die Fragen der Schüler an die Tafel: "Warum ist das passiert? Merken die im Himmel, dass wir traurig sind? Was haben die Piloten gedacht, als es runter ging?" Die gelernte Erzieherin sagte: "Es kann gut sein, dass ihr jetzt schlechte Gefühle und Gedanken habt. Hüpfen baut Stress ab, lasst uns das zusammen ausprobieren." Zwei Stunden war sie in der Klasse. "Wer rückwärts zählt, kann keine schrecklichen Sachen denken", riet sie den Kindern. Ein Mädchen meldete sich: "Es hat geklappt."

Mechthild Schroeter-Rupieper - Autorin
Mechthild Schroeter-Rupieper ist Familien-Trauerbegleiterin und BuchautorinBild: M. Möllers

Dann ging Mechthild Schroeter-Rupieper in den Spanischkurs der 10. Klasse, zu den Klassenkameraden, den Freundinnen und Freunden der Toten. Wie komme ich mit meinen Gefühlen klar? Darüber sprach sie mit den Jugendlichen. "Traurig sein bedeutet nicht nur weinen", erklärte sie, "manche werden unendlich wütend auf Gott und die Welt oder ganz still. Einer will sich nur noch wegbewegen, ein anderer reißt blöde Witze, um das auf seine Art zu verdrängen. Es gibt kein falsches Trauern." Über Trauer und Strategien zum Weiterleben nach dem Verlust spricht sie seitdem regelmäßig mit Geschwistern und besten Freunden der Absturzopfer. Auch viele Elterngespräche hat sie geführt.

Muttererde zu den Kindern bringen

Zwei Jahre sind vergangen. Zum Jahrestag sind wieder viele Angehörige ins französische Le Vernet gereist, in die Nähe des Absturzortes. Dort fühlen sie sich ihren Kindern oder Partnern besonders nah. Als sie zum ersten Mal dorthin flogen, überlegten sie gemeinsam, was sie mitnehmen könnten. "Eure Kinder sind in der Fremde gestorben, nehmt doch etwas Muttererde mit", schlug Schroeter-Rupieper den Familien vor, "oder streut hier und dort Vergissmeinnicht-Samen aus, dann blühen sie an beiden Orten, eine Brücke entsteht".

Germanwings Absturz - Jahrestag
27.03.2015: Kurz nach dem Absturz wurde ein Gedenkstein aufgestellt - viele Angehörige kommen immer wieder hierherBild: picture alliance/dpa/P. Kneffel

Nicht alle sind dieses Jahr nach Le Vernet gereist, auch in Haltern wird wieder der Toten gedacht, fünf Minuten will man gemeinsam schweigen. Zu Jahrestagen steige der Schmerz an, sagt die Trauerbegleiterin, das mache sich auch körperlich bemerkbar: mit Magenproblemen, Kopfschmerzen, Unwohlsein oder Schlafstörungen.

Dass der Vater des Copiloten Andreas Lubitz - genau zur Zeit des Absturzes 2015 - vor der Presse die Verantwortung seines Sohnes in Abrede stellen und die Ermittlungen kritisieren will, fänden seine Mandanten "unfassbar", sagt Rechtsanwalt Roland Krause. Seine Kanzlei vertritt spanische und deutsche Hinterbliebene, auch die aus Haltern. Bisher sei der Copilot bei den meisten Familien "kein großes Thema" gewesen, sagt Mechthild Schroeter-Rupieper: "Sie wollen ihr Herz freihalten von Wut oder gar Hass."

Leidensgefährten, die Mut machen

Die Jugendlichen aus der Trauergruppe fühlten sich heute besser gerüstet als vor zwei Jahren. "Die Trauer kommt wie eine Welle", sagten sie, "anfangs wehrt man sich total dagegen. Irgendwann musst du lernen, dich mitspülen zu lassen, weil du weißt, die Welle geht über dich drüber und dann geht sie wieder weg". Am Anfang denke man, das gehe nie wieder weg, man habe Angst zu ertrinken.

Germanwings-Absturz Trauerbegleitung Lavia - Haltern
Jugendliche aus anderen Trauergruppen kamen nach Haltern, um verwaisten Geschwistern und Freunden Mut zu machenBild: Lavia

Ganz früh hat die Trauerbegleiterin Jugendliche aus anderen Gruppen mit nach Haltern genommen, die selbst einen nahen Menschen verloren haben. Pia berichtete vom Tod ihres Bruders und Carla aus Bottrop fragte: "Kennt ihr das, wenn ihr zuhause die Tür aufmacht und die ganze Traurigkeit kommt euch entgegen?" Als die Jugendlichen in Haltern nickten, sagte sie: "Das geht vorbei". Pia, Carla und die anderen sind Mutmach-Zeugen, sagt Mechthild Schroeter-Rupieper. Sie seien nach ihrem Verlust stärker geworden, weil sie sich so intensiv damit beschäftigt haben.

Viele Kinder und Jugendliche nähmen sich selbst unbewusst zurück, weil ihre Eltern, die die Tragweite des Verlustes meist schneller realisieren, so traurig sind. In der Trauergruppe sind Geschwister und Freunde unter sich. Sie lernen, wie sie Sicherheit aufbauen können: Zu wem kannst du hingehen, wen kannst du anrufen, wem kannst du nachts noch eine Nachricht schicken, was hilft dir? Sie überlegen auch, welche Lichtblicke es nach dem Verlust gegeben hat: Wo konnte ich lachen oder war auf einer tollen Fete, worüber habe ich mich gefreut?

Ein Highlight war die gemeinsame Fahrt zu einem Fußball-Bundesligaspiel von Schalke 04 und der Besuch von Schalke-Spieler und Fußball-Weltmeister Benedikt Höwedes in der Gruppe. Er kommt selbst aus Haltern und hat den Kindern und Jugendlichen erzählt, wie es ist, wenn er traurig ist: "Dann muss ich weinen. Dann ist wichtig, dass meine Frau da ist." So ein persönliches Zeugnis sei ein wichtiges Vorbild für Jugendliche, sagt die Trauerbegleiterin.

Abi 2017 - am Joseph-König-Gymnasium fehlen 18 Menschen

Nicht nur der Jahrestag ist 2017 ein schwieriger Termin. Dieses Jahr hätten die 16 Jugendlichen aus Haltern Abitur gemacht. Sie fehlen, genau wie die beiden Lehrerinnen. Helen zum Beispiel vermisst ihre besten Freundinnen Julia und Caja. Die drei waren auch zusammen im Schwimmverein. Feiern nach dem Tod der Freundinnen und Freunde? Einige können sich das noch gar nicht vorstellen. Doch Helen sagt: "Julia und Caja sind immer mit dabei. Und andere Freunde sind ja auch noch da."

Germanwings-Absturz - Trauergruppe
Helen trägt eine Kerze mit den Fotos ihrer toten Freundinnen Julia und Caja zum Gedenkort an ihrer SchuleBild: Lavia

Das Abitur sei auch für die verwaisten Eltern eine schwere Etappe, sagt die Trauerbegleiterin. Da erzählten andere: "Unsere Tochter will Psychologie studieren." Und eine Mutter denke sich: "Das wollte unsere Tochter auch. Jetzt macht sie noch nicht einmal mehr das Abitur." Das ist wohl gemeint, wenn die Trauerbegleiterin erläutert, dass ein Verlust immer bedeute, auch das eigene Leben zu verändern: "Plan A funktioniert nicht mehr".

Dem Verlust einen Ort geben - Gruß von der anderen Seite

Helfen könne es Trauernden, Gefühle zuzulassen, den Verlust zu akzeptieren und ihm einen Ort zu geben, etwa indem sie sagten: "Ich bin total traurig: Ich wecke dich nicht mehr, mein Kind, schicke dich nicht mehr zur Schule. Du bist für mich jetzt im Himmel und auf dem Friedhof." Rückschläge, neue Wellen der Trauer seien möglich, etwa wenn ein neues Fundstück aus dem Besitz des Kindes vom Absturzort aus Frankreich geschickt werde: "Ich begreife wieder, dass es mein Kind zerrissen hat, das wirft mich zurück. Die anderen gehen ins Studium, mein Kind nicht."

Germanwings-Absturz Trauerbegleitung Lavia – Haltern
Weiterleben, weiter tanzen und verbunden bleiben: Grüße an die toten MitschülerinnenBild: Lavia

Viele Eltern freuten sich aber auch über solche "überraschenden Grüße". Erinnerungen sind kostbar: Der Bruder von Lea hat auf ihrem alten Handy ein Lied gefunden. Lea singt und begleitet sich auf dem Klavier. Ein Musikproduzent hat das Stück überarbeitet, jetzt klingt es ganz klar und warm. Für Leas Mutter ist das "wie ein Gruß von der anderen Seite". Sie steckt ihre ganze Energie in den Umbau eines alten Kinos in Haltern zum Lea-Drüppel-Theater. 100.000 Euro dafür kamen aus einem Fonds der Lufthansa, den die Airline nach dem Germanwings-Absturz eingerichtet hatte. Im Herbst soll zur Erinnerung an Lea, die Musik liebte und gerne auf der Bühne stand, das erste Musical aufgeführt werden.

Mechthild Schroeter-Rupieper hofft, dass auch die Trauerbegleitung fortgesetzt werden kann. Nach einer Anfangsspende von der Lufthansa ist der Förderverein Lavia e.V. eingesprungen. Die Kinder und Jugendlichen wollen weitermachen. Eine Mutter sagte, ihrem 11-jährigen Sohn, dessen Schwester gestorben ist, tue das so gut, er wolle kein Treffen versäumen: "Er wird da gesehen. Man hört auf das, was er sagt."