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Frankreich, Islam und Polemik

Kersten Knipp8. Januar 2015

Frankreich hat historische Beziehungen zur islamischen Welt. Auf ihnen gründen die Bindungen und Spannungen der Gegenwart. Der Terroranschlag gegen "Charlie Hebdo" will das komplizierte Verhältnis zum Scheitern bringen.

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Burka in Frankreich (Foto: dapd)
Verboten: Die Burka in FrankreichBild: CLAUDE PARIS/AP/dapd

Das Buch war noch nicht erschienen, da hatte es bereits hohe Wellen geschlagen. Überall wurde "Soumission" ("Unterwerfung"), der neue Roman des französischen Schriftstellers Michel Houellebecq, diskutiert. Kein Feuilleton, das sich zu dem Roman nicht äußerte. Am Montag dieser Woche erreichte die Diskussion dann auch den Elysée-Palast. Ja, er werde das Buch lesen, erklärte der französische Präsident François Hollande, denn die Leute sprächen ja darüber. Womöglich werde er sich die Houellebecqs Ausführungen zum Islam aber nicht zu eigen machen."Meine Aufgabe ist es, zu sagen, dass wir in dem aufgewühlten Klima nicht den Kopf verlieren", sagte Hollande dem französischen Fernsehsender "France Inter". "Gestatten wir der Angst nicht, Besitz von uns zu ergreifen. … Frankreich ist einige Male besetzt, überrannt, erobert worden, das Land kennt diese Erfahrung."

Der Präsident wollte mäßigend wirken, die aufgeheizte Debatte beruhigen, die sich an Houellebecqs Roman entzündet hatte. Der entwirft in seinem Roman eine bizarre Situation: Ein Muslim ist zum französischen Präsidenten gewählt worden, um die rechtsextreme Marine Le Pen zu verhindern.

Frankreich Literatur Schriftsteller Michel Houellebecq, 2014 (Foto: Getty Images)
Houellebecq: "Islamophobie ist kein Rassismus"Bild: Miguel Medina/AFP/Getty Images

Die Frage, wie das Land darauf reagiert, beantworteten fast die Stellungnahmen zu dem Roman selbst: Die einen priesen Houellebecq als Warner und Retter. Die anderen warfen ihm vor, Öl ins Feuer der ohnehin angespannten Debatte um Migration und Integration zu gießen.

"Rache für den Propheten"

Houellebecq selbst suchte den Mittelweg: Er wisse nicht, vor wem er mehr Angst habe, erklärte er im Interview mit der Wochenzeitung "Le Journal du Dimanche": Vor identitätsversessenen Franzosen oder vor Muslimen. Sicher war er sich aber in einem: "Islamophob zu sein, ist keine Form des Rassismus."

An diesem Mittwoch ist das Buch nun erschienen, just an dem Tag, an dem mutmaßlich muslimische Extremisten das Redaktionsgebäude des Satiremagazins "Charlie-Hebdo" überfielen und zwölf Menschen töteten.

Frankreichs koloniale Vergangenheit

Ist das zeitliche Aufeinandertreffen ein Zufall? Oder sollte es so sein, sollte der Anschlag auf das Satiremagazin auch einer auf all diejenigen sein, die es wagen, sich aus Sicht der Attentäter unangemessen über den Islam zu äußern? Fest steht, dass das Attentat in eine Zeit fällt, in der die Franzosen erregt über den Islam und seine Präsenz in Frankreich diskutieren - und oft auch streiten. In Frankreich leben zwischen vier und sechs Millionen Muslime aus unterschiedlichen islamischen Ländern. Nicht wenige ethnische Franzosen fürchten, diese könnten das politische, juristische und religiöse Selbstverständnis des laizistischen Staates dauerhaft verändern.

Die Debatten finden vor einem weit zurückreichenden historischen Hintergrund statt. 1830 eroberten die Franzosen Algerien. Dort errichteten sie eine Kolonialherrschaft, die über 130 Jahre dauerte. Erst 1962, nach langen, erbittert geführten Kämpfen mit hohen Todesopfern auf beiden Seiten, wurde das nordafrikanische Land wieder unabhängig. In Frankreich und Algerien existierten an diese Zeit ganz unterschiedliche Erinnerungen, erklärt der französische Historiker Benjamin Stora. "Auf der einen Seite steht der französische Nationalismus, der den Rückzug aus Algerien bis heute nicht hinnehmen will. Der algerische Nationalismus hingegen legitimiert sich aus dem Sieg über den ehemaligen Kolonialherren. So gibt es zwei Versionen der Geschichte, die sich konträr gegenüberstehen."

Muslime vor Moschee in Paris
Muslime vor der großen Moschee in ParisBild: picture-alliance/Godong/Robert Harding

"Rühr meinen Kumpel nicht an"

Doch auch die jüngere algerische Geschichte hinterließ in Frankreich ihre Spuren. So verübten Dschihadisten während des algerischen Bürgerkriegs in der ersten Hälfte der 1990er Jahre auch schwere Attentate in Frankreich, unter anderem in Einrichtungen der Pariser Metro.

Die teils spannungsreichen Beziehungen im multikulturellen Frankreich führten bereits 1985 zur Gründung des Bündnisses SOS Rassisme. Dieses warb mit dem Slogan "Touche pas à mon pote" ("Rühr meinen Kumpel nicht an") für ein friedliches Miteinander der verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen.

Dennoch sind die Debatten um die Integration muslimischer Franzosen in Frankreich nicht abgerissen. Im Herbst 2005 kam es in mehreren Städten zu gewalttätigen Ausschreitungen junger Zuwanderer. Entzündet hatten sie sich am Tod zweier junger Migranten, die sich auf der Flucht vor der Polizei in einem Transformatorkasten versteckten und dort von Stromschlägen getötet wurden. Daraufhin entzündeten sich in Paris Proteste, die bald auf andere Großstädte des Landes übergriffen. In den folgenden Wochen wurden zahllose PKW, Telefonzellen und Müllcontainer in Brand gesetzt. Die Gewalttätigkeiten wurden vielerseits als Ausdruck der schwierigen Verhältnisse in den Banlieues, den französischen Vorstädten gedeutet, in denen die meisten Migranten leben.

Algerienkrieg Einheit der Harkas, 1957 (Foto: AFP)
Blutig: Der algerische UnabhängigkeitskampfBild: picture-alliance/dpa/AFP

Terror und Diffamierung

Auch kulturell schwelt der Konflikt. So hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Juli 2014 das Burka-Verbot bestätigt, das in Frankreich im Frühjahr 2011 in Kraft getreten war. Es verbietet Frauen, in der Öffentlichkeit eine Burka, also einen Ganzkörperschleier, oder den Nikab, einen Gesichtsschleier, zu tragen. Bei Zuwiderhandlungen droht eine Strafe von 150 Euro. Betroffen von dem Verbot sind in Frankreich rund 2000 Frauen.

Für Angst und Empörung hatte auch der Anschlag auf eine jüdische Schule im März 2012 gesorgt. Dabei hatte ein junger algerischstämmiger Franzose vier Menschen getötet, darunter drei minderjährige Kinder.

Auf der anderen Seite klagen viele in Frankreich lebende Muslime über Vorurteile und Diffamierung. So hatte die Vorsitzende des rechtsextremen Front National, Marine Le Pen, im Dezember 2010 die öffentlichen Gebete gläubiger Muslime als "Besatzung" französischen Bodens bezeichnet. "Sicher geschieht dies ohne Panzer und ohne Soldaten, aber trotzdem ist es eine Besatzung, und betroffen sind die Einwohner", sagte Le Pen. Das Europaparlament hatte daraufhin die Immunität der Abgeordneten aufgeboben.

Zusätzlich aufgeheizt wird die Debatte durch das Wirken des "Islamischen Staats" in Syrien und im Irak. In diesem Kontext fand wohl auch der Anschlag gegen die Redaktion von "Charlie Hebdo" statt. Er wurde von professionellen Terroristen ausgeführt. Sie setzen offenbar um, was der "Islamische Staat" sich für Europa wünscht: Muslime und Nicht-Muslime gründlich zu entzweien.