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PolitikNahost

Ägypten diskutiert über Femizide

Jennifer Holleis | Mohamed Farhan
2. Juli 2022

Eine Studentin lehnt einen Heiratsantrag ab und wird ermordet. Die Tat hat Ägypten aufgerüttelt. Noch immer werden Frauen im Land diffamiert. Frauenrechtlerinnen sagen: Ägypten hat ein strukturelles Problem.

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Symbolbild häusliche Gewalt
Bild: Frank May/picture alliance

Basma kann es immer noch nicht fassen. Zehn Tage ist der schockierende Mord an einer Kommilitonin von der ägyptischen Mansoura-Universität jetzt her, die Tat fand unweit des Campus statt. "Ich bin noch immer verängstigt und habe meine Wohnung seitdem nicht verlassen", so die 27-Jährige, die ihren kompletten Namen lieber nicht veröffentlicht sehen möchte.

Am 20. Juni wurde die 21 Jahre alte Studentin Naira A. getötet - von einem Mann. Der Grund: Sie hatte seinen Heiratsantrag abgelehnt. Überwachungskameras und mehrere Handyvideos von mindestens einem Dutzend Zeugen haben die Tat festgehalten und zeigen, wie der 27-jährige Mohamed A. auf Naira A. mit einem Messer einstach, uns das am helllichten Tag. Erst als Passanten eingriffen, ließ er von ihr ab. Als die Polizei kam, wurde er verhaftet.

Gewalt gegen Frauen steigt seit 2021 an

Das Gericht befand ihn des vorsätzlichen Mordes für schuldig und verurteilte ihn zum Tod. Jetzt wurde der Fall zum Großmufti weitergeleitet, Ägyptens wichtigster theologischer Institution. Er muss jetzt entscheiden, wie es mit der Vollstreckung der Todesstrafe in den kommenden Tagen weitergehen soll. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Urteil bestätigt wird, ist groß, denn Mohamed A. hat bereits gestanden und den Umstand des zurückgewiesenen Heiratsantrages als Tatmotiv angegeben.

Ägypten Prozess gegen Mohamed Adel
Mohamed A. wird zum Gericht geführtBild: Khaled Desouki/AFP

Der Fall hat Ägypten in Aufruhr versetzt. In den Sozialen Medien rufen User nach "Gerechtigkeit" und betrauern Fälle von Femiziden, also Morden an Frauen, in verschiedenen Teilen des Nahen Ostens. Die Tat von Mansoura lenkt die Aufmerksamkeit auf die steigende Zahl von Tötungsdelikten und sonstigen Gewalttaten gegen Frauen. Habiba Abdelaal, eine Expertin für Frauenrechte, sagt im Interview mit der DW: "Die Belästigung von Frauen im öffentlichen Raum ist in den vergangenen Jahren zwar thematisiert worden. Was aber zuhause passiert, bleibt vor der großen Öffentlichkeit weitestgehend verborgen, und Polizei und Politik packen das nicht an." Ein Report der ägyptischen Edraak-Stiftung für Entwicklung und Gleichheit vom Februar 2022 unterstreicht das. Aus dem Bericht geht hervor, dass es in Ägypten im vergangenen Jahr einen "bemerkenswerten Anstieg" an geschlechtsspezifischen Gewalttaten gegeben habe, mit 831 Fällen, die Frauen und Mädchen betrafen. Dem gegenüber standen 415 Fälle 2020.

Ähnliche Tat auch in Jordanien

Abdelaal sagt: "Gewalt gegen Frauen ist im Nahen Osten und Ägypten eine endemische Krankheit." Für sie ist klar, dass die Tötung von Naira A. nicht aus dem Nichts gekommen ist. "Das war weder der erste noch der letzte Fall." Was allerdings schon auffällt ist, dass die Tat auch mehr als zehn Tage danach immer noch im Fokus der öffentlichen Debatte steht.

Das liegt auch daran, dass es wenige Tage später zu einer ähnlichen Tat in Jordanien kam: Die jordanische Krankenpflege-Studentin Iman R. wurde nahe der Hauptstadt Amman von einem Mann erschossen. Die Tat ereignete sich in ihrer Universität, und auch hier war offenbar ein zurückgewiesener Heiratsantrag vorausgegangen.

Eine frappierende Ähnlichkeit zum Fall in Kairo, mit dem Unterschied, dass der mutmaßliche Mörder von Iman R. fliehen konnte und sich später das Leben nahm. Weitere Details sind nicht bekannt, da die jordanischen Behörden zu der Tat nichts mehr sagen wollen. "Solche Fälle werden durch ein Klima begünstigt, in dem Frauen geringgeschätzt und drangsaliert werden und auch sonst die Wahrnehmung vorherrscht, dass Männer sowieso immer im Recht sind", sagt Ghada Saba, eine jordanische Filmemacherin. Aber vielleicht sei gerade deshalb jetzt eine Debatte in den Sozialen Medien losgebrochen, die sich um Frauenrechte und freie Partnerwahl drehe.

"Sicherheit ist ein Grundrecht"

Auch Abdelaal ist sich sicher, dass die Diskussion eines zeigt: "Dass wir nicht nur rechtlich zu wenig Handhabe haben, sondern außerdem in einer Gesellschaft leben, in der ständig eine Täter-Opfer-Umkehr stattfindet. Besonders, wenn das Opfer eine Frau ist. Einige Kommentare zu Naira A.s Tod zeigen das".

Azza Soliman, Anwältin und Gründerin des "Zentrums für die Rechtsberatung ägyptischer Frauen", sieht das ähnlich. Immer deutlicher würde klar, wie sehr die Öffentlichkeit Frauen "diffamiert", sagt sie der DW. Gewalt gegen Frauen könne dadurch als normal angesehen werden, fürchtet sie.

Die ägyptische Frauenaktivistin Lobna Darwish sieht in der Debatte, die auf Naira A.s Tod folgte, auch ein gewisses Wachrütteln der Gesellschaft. Sie glaubt aber nicht, dass in Ägypten schon bald etwas gegen Gewalt gegen Frauen getan wird. Man werde es nicht schaffen klarzumachen, dass Sicherheit und Schutz vor Gewalt ein Grundrecht von Frauen sei, und dass dieses Grundrecht weder außerhalb noch innerhalb der eigenen vier Wände in Frage gestellt werden dürfe, so Darwish im DW-Interview.

Ägypten | Familienmitglieder der ermordeten Naira Ashraf beim Prozess gegen Mohamed A.
Familienmitglieder von Naira A. beim Prozess in Kairo, 26. Juni 2022Bild: Khaled Desouki/AFP

Im Fall von Naira A. macht sie beispielsweise darauf aufmerksam, dass die Familie zuvor dreimal eine einstwillige Verfügung gegen den Stalker und späteren Mörder ihrer Tochter erreichen wollte, jedes Mal vergeblich. "Sie hat also versucht, rechtliche Schritte einzuleiten, sie war auf der Polizeiwache. Es ist aktenkundig, dass sie eine einstwillige Verfügung angestrengt hat, aber so weit kam es schlicht nicht", erklärt Darwish. "Das ist doch irgendwie traurig, dass erst ein Video, auf dem eine Frau am helllichten Tag ermordet wird, viral gehen muss, bevor etwas passiert."

Frauenrechtlerinnen im ganzen Nahen Osten rufen wegen der Tötungsdelikte zu einem überregionalen Streik am 6. Juli auf. Basma, die Studentin aus Kairo, bleibt derweil verängstigt zuhause, denn, so sagt sie, "es kann sich jederzeit wiederholen, und jede Frau, die einen Heiratsantrag ablehnt, wird fürchten, dass ihr das Gleiche passiert".    

Friedel Taube hat diesen Text aus dem Englischen übersetzt.

Jennifer Holleis
Jennifer Holleis Redakteurin und Analystin mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika.